Nachmittag des 28. März 1822
Lucien Dravean & Shanaya Árashi
Shanaya juckte es unendlich in den Fingern. Als die Sphinx angelegt hatte, hatte die junge Frau sich endlos zusammen reißen müssen, um nicht sofort in die Richtung der Stadt davon zu eilen. Trotzdem hatte sie – mehr oder minder – ruhig erst einmal alles zusammen gesucht, was sie für diese kleine Expedition benötigte. Auch, wenn sie mit einem Blick auf die Uhr wusste, dass sie heute gewiss nicht mehr viel von der Insel sehen würde... aber wenigstens den Hafen wollte sie erkunden. Je dunkler es wurde, desto spannender wurde dieses Viertel, egal auf welcher Insel.
Als sie schließlich aufgebrochen war, die Tasche mit den wichtigsten Dingen gefüllt, war es bereits Nachmittag. Der Weg zum Hafen war schnell gefunden, das Herz der Schwarzhaarigen war vor Vorfreude kaum zu bändigen. Während der blaue Blick zwischen den Gebäuden – und den hier arbeitenden Menschen – hin und her wanderte, wurde das Grinsen auf ihren Zügen immer breiter. Es war nicht die erste Insel, die sie anlief. Wie viele sie schon gesehen hatte... sie wusste es nicht. Aber auch vor der Rettungsaktion hatte es sich nicht SO angefühlt. Sie konnte tun und lassen was sie wollte. Und hätte das nicht für unendlich gute Laune gereicht, stand auf dieser Insel noch das Frühlingsfest an. Ein weiterer Grund für die beste Laune der jungen Frau, die sie sich nicht einmal von den eindeutig gekleideten Frauen vermiesen ließ, die mehr und mehr ihren Weg kreuzten. Natürlich. Auch, wenn sie eine tiefe Verachtung in Shanaya hochkochen lassen wollten – sie gehörten eben irgendwie zu jedem Hafen. Genau wie die Männer, die ihnen hinterher hechelten. Und denen man deutlich ansah, dass das Hirn eine ganze Etage tiefer gerutscht war.
Ihr Blick glitt nur beiläufig über die ganzen Menschen, die Huren, die sich an irgendwelche Männer schmissen, nahm kaum jemanden wirklich wahr - bis ein bekanntes Gesicht in ihr Blickfeld trat. Einen Moment zuckte eine Augenbraue der jungen Frau in die Höhe, ihr Lächeln nahm einen wissenden Zug an. Zuerst wurde sie nur langsamer, blieb dann aber doch stehen und verschränkte die Arme vor der Brust, ihren Captain mit einem prüfenden Grinsen musternd.
„Da hatte jemand es wohl sehr eilig.“
Die Schwarzhaarige ignorierte das Gefühl der Abneigung gegenüber diesen Frauen, sodass ihre Stimme nicht verurteilend klang. Nur amüsiert. Und da sie Lucien nicht so einschätzte, dass ihm diese Situation in irgendeiner Art und Weise peinlich war...
Ein Paar schlanker Arme legte sich von hinten um seine Schultern, ließen Lucien beim Verschließen seines Hemdes inne halten und flüchtig lächeln. Kurz danach drückten sich zwei volle Brüste gegen den Stoff, der seinen vernarbten Rücken bedeckte. Weiche Lippen streiften sein Ohr und ihr warmer Atem strich sanft über seine Wange.
„Komm bald wieder, Hübscher.“, schnurrte sie ihm leise zu und sank dann provozierend langsam, geradezu verlockend zurück in die weichen Laken. Ganz bewusst ließ sie ihre Worte hoffnungsvoll klingen, als sehnte sie sich tatsächlich danach, auch wenn sie log. Das war schließlich ihr Beruf – und er bezahlte sie dafür. Wenn auch mit Talins Geld.
Sein Blick wanderte über die Schulter zu dem Mädchen zurück, das ausgestreckt auf dem Bett lag und sich mit amüsiertem Funkeln in den Augen eine dunkelbraune Haarsträhne um den Finger wickelte.
„Mal sehen.“, war die schlichte, aber ebenso belustigte Antwort des 21-Jährigen, ehe er sich schließlich fast ein wenig wehmütig erhob und einige Münzen aus dem Beutel an seinem Gürtel zog, die er ihr auf dem Nachttisch liegen ließ. Angesichts des wohlig matten Gefühls, das ihn erfüllte, zeigte er sich heute ausgesprochen spendabel. Er hatte ein teures Haus gewählt, ein sauberes vor allem, und das hieß Vorauszahlung. Damit waren diese Münzen nur für sie. Sozusagen als Trinkgeld.. für ihre ausgesprochen guten Dienste.
Erfrischt von dem vorausgegangenen Bad – Seife kostete übrigens extra – trat Lucien ins Licht der Nachmittagssonne auf die Straßen von Mîlui. Das Bordell lag am Rande des Hafenviertels, ganz in der Nähe der wohlhabenderen Stadtbezirke, weshalb der Trubel um das Frühlingsfest hier schon deutlich stärker zu spüren war, als unmittelbar am Wasser.
Ihn reizte davon allerdings sichtbar wenig. Gedankenversunken folgten die tiefgrünen Augen einem bis zum Rand mit Girlanden gefüllten Karren, der die Straße hinauf holperte, während er noch überlegte ob er sich auf den Weg zurück zum Schiff machen sollte, als eine vertraute Stimme ihn aufhorchen ließ. Einen Herzschlag später stieß Lucien ein teils belustigtes, teils ungläubiges Lachen aus, noch bevor er den Blick überhaupt zu Shanaya herum wandte. Klein war doch die Welt.
Gelassen kam sie näher, blieb schließlich bei ihm stehen und er hob gut gelaunt die Arme, um sie am Hinterkopf zu verschränken – der Inbegriff behaglicher Zufriedenheit.
„Ich hatte die letzten zwei Jahre keine Gelegenheit. Natürlich hatte ich es eilig.“ In den grünen Augen leuchtete der Schalk. „Und nein. Nichts, was mir nicht schon bekannt war. Aber dafür habe ich sie schließlich auch nicht bezahlt.“ Damit wurde das Lächeln auf seinen Lippen eine Spur spöttischer. „Wie man eine Frau anständig behandelt, muss mir wohl jemand anderes beibringen. Bietest du dich an?“
Ganz, wie sie erwartete hatte. Der blaue Blick lag aufmerksam auf den Zügen des Dunkelhaarigen – und sie erkannte darin nicht einmal ansatzweise etwas unangenehmes. Sie konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, als er locker die Arme hinter dem Kopf verschränkte. Manch anderer wäre vielleicht schnell in einer dunklen Ecke verschwunden. Lucien nahm das ganze aber mit Humor. Vielleicht auch, weil er von ihr keine Szene, wie die einer betrogenen Ehefrau, erwarten musste? Stattdessen bekam er nach solch einem Besuch noch so gute Gesellschaft. Er hatte wirklich Glück. Seine Worte entlockten nun ihrerseits ein Lachen.
„Du armer, armer Mann. Dann hoffe ich, dass es sich gelohnt hat.“
Ihr Kopf wog sich ein wenig zur Seite und bei seinen nächsten Worten wurde ihr Lächeln noch einmal viel deutlicher. Ihm zeigen, wie man eine Frau behandelte? Der Ausdruck auf ihren Zügen nahm einen beinahe verführerischen Zug an.
„Wenn du damit leben kannst, dass du bei Fehltritten auf meine Weise... bestraft wirst, wie könnte ich da nein sagen.“
Tatsächlich sah Lucien keinen Grund, sein Tun zu verschleiern, sich in irgendeiner Art und Weise zu schämen. Er liebte die Frauen, er liebte den Sex und er liebte die käufliche Liebe. Das war kein Geheimnis und musste auch keines sein. Sein Vater hatte ihn das erste Mal in ein Bordell geschleppt, da war er noch nicht einmal 14 Jahre alt gewesen. Und die Hure, die er für seinen Sohn auswählte, hatte ihre Aufgabe gut gemacht. Der 21-Jährige erinnerte sich auch jetzt noch in aller Deutlichkeit daran. Sie war sehr... einfühlsam mit dem Jungen gewesen, der damals vor ihr stand. Seit dem behandelte er die Frauen, die er bezahlte, besser, als die Menschen, denen er sonst begegnete und sie erwiderten diesen Gefallen in der Regel.
„Hm... Kann mich nicht beschweren.“
Ein sanfter Schauer rann ihm über den Rücken und mit einem kleinen, fast anzüglichen Lächeln im Mundwinkel schloss Lucien die Augen, spürte dem wohlig erschöpften Gefühl nach, das die Erinnerung an ihre Berührungen in ihm aufleben ließ. Es würde ohnehin viel zu schnell wieder verblassen.
Als Shanaya schließlich weiter sprach, vertiefte sich sein Lächeln zu einem ausgewachsenen Schmunzeln und er schlug die tiefgrünen Augen wieder auf, warf ihr einen sehr zweideutigen Seitenblick zu.
„Und wie genau sieht deine Art der Bestrafung aus?“
Shanaya beobachtete den Mann nur aufmerksam, ging dann aber nicht weiter auf seine Antwort ein. Natürlich nicht. Männer. Und er wunderte sich, dass er in einer Schublade steckte. Aber auch das war wieder so typisch, dass Shanaya nur ein lautloses Seufzen von sich gab. Wieso hatte sie sich noch gleich eine Zukunft ausgesucht, in der sie hauptsächlich von Männern umgeben sein würde? Achja... weil sie Frauen hasste. Tragisch.
Als Lucien sie wieder anblickte und sich nach der Art der Bestrafung erkundete, wurde ihr Lächeln eine Spur einladender. Wollte er darauf wirklich einfach so eine Antwort? Sie konnte es sich kaum vorstellen. Ihre Stimme war dennoch nur ein Flüstern, gerade so laut, dass er es hören konnte. Ihre Worte untermalte ein leichtes Zwinkern.
„Komm mit und finde es heraus.“
Damit setzte sie sich ruhig wieder in Bewegung, nicht jedoch ohne dem Dunkelhaarigen einen einladenden Blick zu zuwerfen. Ihm gefiel es hier vielleicht – sie verlockten diese ganzen Frauen dazu, ihnen allen die Meinung zu sagen. Und es gab noch genug zu erledigen.
Ein amüsiertes, vielsagendes Funkeln leuchtete in den tiefgrünen Augen. Mit ihrem einladenden Lächeln, ihrem sanften Flüstern und ihrer lockenden Mimik machte sie den Frauen, die mit nur allzu deutlichen Absichten leicht bekleidet an der Hauswand des Etablissements lehnten, aus dem er gerade gekommen war, mehr als nur Konkurrenz. Sie setzte sich in Bewegung, hatte ihm den Köder vor die Füße geworfen und testete jetzt, ob er anbiss.
Obwohl er sich längst entschieden hatte, wog der Dunkelhaarige für einige Sekundenbruchteile tatsächlich ab. Er hätte den Kopf schütteln und gehen können. Wenn er ihr stattdessen folgte, müsste er ihre Gedanken nicht einmal lesen können, um zu wissen, was ihr dann durch ihr Oberstübchen schwirrte und doch zuckte er einen Moment später mit den Schultern – so gut das mit den hinter dem Kopf verschränkten Armen eben ging – und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Was sollte er sagen... Er hatte angebissen.
Nicht, weil er sich davon auch nur irgendetwas versprach. Sie spielte nur mit ihm. Aber er war neugierig – wieder einmal – was sie als nächstes versuchen würde. Und wie weit sie gehen würde. Also spielte er mit, ließ gelassen die Arme sinken und folgte ihr, bis er wieder gleichauf mit ihr war. Nur beiläufig blieb eine Aufmerksamkeit dabei auf einem der Mädchen hängen, das am Straßenrand stand und ihm lasziv lächelnd zuwinkte.
„Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass mir noch irgendjemand so etwas wie Anstand beibringen kann. Nicht einmal so jemand wie du.“
Mit dem letzten Satz löste sich Lucien von dem Mädchen und die grünen Augen erhaschten einen Seitenblick auf das Profil seiner Begleiterin. Seine gute Laune hörte man ihm in jeder Silbe an.
Nach dem kurzen Blick zu Lucien wandte die junge Frau sich wieder nach vorn, der Blick auf ihren Zügen sprach Bände. Sie zweifelte nicht daran, dass der Mann ihr folgen würde. Und da sie ihm den Rücken zugewandt hatte, bemerkte sie auch sein kurzes Zögern nicht. Sie war sich ziemlich sicher, dass lediglich die Frauen, die hier so herum standen, ihn hätten abhalten können. Und das auch nur, weil die deutlicher einfach ins Bett zu kriegen waren, als sie selbst. Aber bevor sie diesen abwertenden Gedanken weiter vertiefen konnte, trat Lucien an ihre Seite. Das Lächeln der Schwarzhaarigen wurde einen Hauch breiter, ehe sie bei seinen Worten auflachen musste. Sie hob die Hand, klopfte ihm einige Male gut gemeint auf die Schulter.
„Man lernt nie aus. Und ich bin eine sehr strenge Lehrerin.“
Mit einem gut gelaunten Blick warf sie ihm ein Grinsen zu. Sie hatte da schon ihre Methoden für.
Er erkannte an ihrem Lächeln, dass er mit seiner Vermutung völlig richtig gelegen hatte. Shanaya war so unglaublich von sich selbst überzeugt, dass ihn das schon wieder zum Grinsen brachte. Darin unterschieden sie sich zumindest überhaupt nicht. Auf ihre Antwort warf er ihr einen vielsagenden Seitenblick zu, hob dabei leicht eine Augenbraue. Das kurze Auflodern von Zynismus behielt er jedoch für sich. Nicht nötig, ihr zu verraten, was Strenge bei ihm bewirkte. Immerhin dachte vermutlich keiner von ihnen – gut, er zumindest nicht – an diese Form von Strenge... Sondern eher an die, die mehr Spaß machte.
Der Dunkelhaarige ließ gelassen die Arme sinken, passte sich dabei intuitiv Shanayas Geschwindigkeit und dem Weg an, den sie einschlug. Immerhin wollte ja sie ihn irgendwo hin führen. In irgendeine dunkle Ecke... oder einen verborgenen See.
„Vielleicht sollten wir vorher noch definieren, was du unter 'Anstand' verstehst. Nur um sicher zu gehen... Ich habe ein bisschen das Gefühl, unsere Sichtweisen könnten sich in dem Punkt grundlegend unterscheiden.“
Er unterdrückte ein Grinsen, doch in den tiefgrünen Augen blitzte der Schalk auf.
Shanaya spürte den Blick des Mannes auf sich ruhen – aber mehr als ein Grinsen entlockte es ihr nicht. Nicht einmal den Kopf wandte sie wirklich zur Seite, hielt die blauen Augen nach vorn gerichtet. Erst die Worte des Mannes ließen die junge Frau munter auflachen, sie tat so, als müsse sie einen Moment überlegen. Nach wenigen Schritten drehte sie schließlich den Kopf zu Lucien herum, auf den Zügen ein herausfordernder Ausdruck. Einer, der ihn definitiv zu ihren Grenzen locken sollte. Noch einmal.
„Du weißt doch – ich zeige dir, wo Anstand und Grenzen aufhören.“ Sie zwinkerte dem Dunkelhaarigen vollkommen unschuldig zu, erinnerte sich nur zu lebhaft an das letzte, kleine... Abenteuer. „Keine Sorge, das schaffe ich auch ohne ein bisschen kühles Wasser, das dein Gemüt abkühlt. Aber das findest du sicher lieber selbst heraus, ohne dass ich dir darauf antworte.“
Mit einer lockeren Bewegung ließ die Schwarzhaarige die Arme ein wenig vor und zurück wandern, ohne den Dunkelhaarigen dabei aus den Augen zu lassen. Andere Ansichten, hm?
„Aus der Erfahrung her lernt es sich sowieso besser.“
Mit einem weiteren Grinsen drehte Shanaya den Kopf wieder nach vorn, lauschte jedoch gespannt auf seine Reaktion. Nicht, dass sie ihn zu irgendwas verführen wollte...
Leise lachte der Dunkelhaarige auf, warf ihr dabei einen vergnügten Blick zu. „Da ich inzwischen ganz genau weiß, wo dein Verständnis von Anstand endet... bist du vielleicht doch nicht die Richtige, um mir so etwas beizubringen.“
Das, was sie am See getan hatten, entbehrte schon längst jeder Form von Anstand, auch wenn sie diese eine, feine Grenze nicht überschreiten wollte. Und jetzt, so ganz ohne Gemüter kühlendes Bergwasser, wäre er tatsächlich gespannt darauf, wie sie ihn in seine Schranken weisen wollte. Er wurde von Tag zu Tag kräftiger – und er musste sich im Moment auch nicht aufs Schwimmen konzentrieren.
Doch Lucien behielt seine Gedanken für sich, beobachtete die Schwarzhaarige nur amüsiert und hakte die Daumen vor dem Bauch in seinen Gürtel. Ganz so leicht würde er es ihr dieses Mal nicht machen.