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How far we'll go - Lucien Dravean - 01.02.2023

How far we'll go
nachts


Tarón & Lucien
06. Mai 1811 | Mannschaftsdeck der Sphinx | kurz hinter Lacrinîn


Nach drei Tagen hatte die Wunde an seinem Bauch zumindest aufgehört, zu nässen. Stattdessen bildete sich eine dicke Schorfschicht, die ihn bei jedem Schritt behinderte und bei jeder unbedachten Bewegung wieder aufriss. Ersteres ziepte fürchterlich und Letzteres schmerzte höllisch, vor allem beim Arbeiten. Gregory hatte ihm Ruhe verordnet, ebenso wie Talin. Doch wie immer fand der junge Captain keine Ruhe. Nicht mit all den Gedanken, die in seinem Kopf herumwirbelten. Die Nachwirkungen der Angst um seine Schwester, die unerwartete Begegnung mit Ceallagh, die beinahe Sicherheit, wieder verfolgt zu werden. Oder was hieß ‚wieder‘? Am Anfang mochte es Einbildung gewesen sein, doch jetzt? Er suchte sich also Ablenkung und fand sie normalerweise in Arbeit oder Alkohol. An diesem Vormittag jedoch in den neuen Crewmitgliedern. Einem, speziell. Dem er noch Dank schuldete und wofür bis dahin keine Gelegenheit gewesen war. Als er das Mannschaftsdeck betrat und seine Augen sich an das dämmrige Zwielicht gewöhnt hatten, steuerte er deshalb recht zielstrebig den älteren Mann an, der mitten im Gefecht das Zünglein an der Waage gewesen war. Er hatte sich bereits eine freie Hängematte gesucht und sich augenscheinlich eingerichtet. Seinen schuppigen Begleiter entdeckte Lucien allerdings auf einen ersten Blick nicht. „Tarón?“, machte er mit ruhigem, freundlichen Ton auf sich aufmerksam. „Hast du eine freie Minute?“

Drei Tage war es her, als ihn das Schicksal an Board der Sphinx geführt und seine Sterne sich damit einmal mehr neu geordnet hatten. Drei Tage, die Tarón bereits damit genutzt hatte sich einen Eindruck der Mannschaft und des Schiffes zu machen und in denen er sich Mühe gemacht hatte seinerseits einen guten Eindruck zu hinterlassen. Arbeitsam und erfahren hatte er zugesehen sich an Board nützlich zu machen und dabei seine eigenen Pläne überdacht. Vielleicht war dies ein Schiff, auf dem er bleiben konnte. Es gab auf den Weiten des Ozeans nichts das für ihn ein Zuhause darstellte. Keinen Hafen, der auf ihn wartete. Nur die Echse und die Mission, die Aylah ihm mit ihr überlassen hatte.
‚… schwöre es mir. Wenn du mich liebst, dann schwöre …‘
Und er hatte es geschworen. Wie auch immer, warum auch immer – es gab nur noch diese Priorität, nur noch dieses Ziel. Alles was ihm blieb. Vielleicht weil er kein Besseres hatte, weil mit der ‚Aurora‘ alle weiteren Träume und Ziele, die neben Calwahs Sicherheit und seinem Schwur vielleicht noch eine Rolle gespielt hatten, versunken waren – so wenige ihm auch damals schon geblieben waren. Dennoch existierte ein Mann nicht im Vakuum und es fühlte sich gut an wieder Wellengang unter Planken zu spüren und das Knattern von Segeln im Wind zu hören und Menschen um sich zu haben, die vielleicht mehr als ein flüchtiges Mittel zum Zweck werden konnten.
Einer davon – so gesehen der Wichtigste von ihnen – sprach ihn unverhofft an, als Tarón gerade in diesen und anderen Gedanken versunken eine Ruhepause eingelegt hatte. Die hellen Augen richteten sich auf den jungen Käptn des Drachenschiffes. Dessen Bewegungen verrieten die Wunde noch, die er sich zugezogen hatte, aber offenbar heilte sie gut und so würde Lucien wahrscheinlich bald wieder ganz auf den Beinen sein. Bis dahin ergab sich die wunderbare Gelegenheit die Zwangspause, die er wohl einlegen musste, zu nutzen, um sich bekannt zu machen. Zumindest hoffte der Falke, dass vielleicht auch Lucien eine Minute hatte.
Taróns Falkenaugen blitzten mit freundlichem Schalk auf, als er dem Jüngeren mit einem seichten Lächeln begegnete.
„Nun – da ich hier gerade wortwörtlich nur nutzlos rumhänge: Aye, natürlich Käptn.“
Geschickt schwang er die Beine herum, so dass er noch in der Hängematte sitzend mit den Füßen auf den Boden kam, um Lucien abwartend anzusehen.


Ein kleines Schmunzeln huschte ob des lockeren Wortspiels über seine Lippen, während sich der Ältere aus seiner liegenden Position schälte und die Beine über den Rand der Hängematte schwang. Lucien blieb in kaum zwei Schritt Entfernung stehen – froh darüber, Tarón mit seinem Auftauchen nicht aus einem sicherlich verdienten Nickerchen gerissen zu haben – und nahm sich zum ersten Mal in den vergangenen Tagen die Zeit, den Mann, der ihm nun gegenüber saß, eingehender zu mustern. So gut es die Lichtverhältnisse unter Deck eben zuließen.
Es mochte gut und gerne eine Dekade an Jahren zwischen ihnen liegen und doch wirkte der Ältere nach wie vor weder alt, noch so, als ließen Kraft und Fähigkeiten allmählich nach. Hier und da fand sich vielleicht eine silberne Strähne in seinem Bart, doch die hellen Augen waren so klar und aufmerksam wie die eines Raubvogels.
„Sieht ganz so aus, als hättest du dich bereits gut eingelebt“, stellte Lucien fest und fuhr sich, ohne es wirklich bewusst wahrzunehmen, mit der flachen Hand über die Wunde an seiner Seite. In seiner Stimme lag kein Vorwurf, sondern fast soetwas wie gelassene Genugtuung. Vielleicht hätte er angesichts der Ereignisse, die hinter ihnen lagen, misstrauischer sein sollen. Hätte in Taróns Hilfsbereitschaft zumindest eine Weile noch den simplen Trick sehen sollen, sich auf ihr Schiff zu scheichen. Doch obwohl er den Mann kaum kannte, lagen ihm diese Gedanken im Augenblick gänzlich fern. „Wo ist dein schuppiger kleiner Freund abgeblieben?“, fragte er stattdessen mit nichts weiter als ehrlichem Interesse in den tiefgrünen Augen.


Mit einem leichten Lächeln wartete Tarón ab, während er Luciens Blick über sich wandern fühlte und seine Augen ihn gleichfalls maßen, wie die eines interessierten Raubvogels auf seinem Ansitz. Dabei entging ihm auch nicht, wie Luciens Hand zu seiner Wunde wanderte.
„Nun man tut sein Bestes.“ Antwortete er dem Jüngeren offen – so war es immerhin auch. Keine versteckte Agenda – lediglich das Bemühen sich Anschluss zu verdienen.
Er nickte leicht in Richtung von Luciens Hand.
„Was macht die Wunde?“ Smalltalk – er konnte es anhand von Luciens Haltung erahnen, aber dennoch interessierte es ihn tatsächlich. Aus einem Sympathievorschuss heraus genauso wie aus purem Selbstzweck: wenn der Käpt’n verwundet war das ein Grund mehr die Augen aufzuhalten und eventuelle Schwingungen in den Wellen dieser „Schwäche“ unter der Crew frühzeitig wahrzunehmen. Es war ein Vorteil, dass Lucien sich seinen Posten mit seiner Schwester teilte. Eine ungewöhnliche Konstellation aber eine, die Tarón bisher sowohl als schlau wie auch insgesamt förderlich einschätzte.
Ah, das Gespräch kam auf das Echsenvieh – natürlich. Bei all dem Ärger den Calwah mitunter veranstaltete war er zumindest für eine Sache hervorragend geeignet: als Eisbrecher in Konversationen. Tarón wünschte des Öfteren dennoch das verdammte Vieh wäre nicht so auffällig, aber in diesem Fall war das wohl gut so.
Sein Blick glitt nach oben und sein Kopfnicken folgte als Geste hinauf zu den niedrigen Balken über ihnen. Zwischen Seilaufhängungen fläzte sich die Echse auf eben diesem und blickte mit hellen Augen neugierig,  wachsam und mit einer seltsamen Art von Reptilienarroganz auf Lucien herab.
„Ich glaube er hat sich ebenfalls gut eingelebt – glaubt schon das sei sein Schiff.“


Als Taróns Blick zu der Hand an seiner Wunde wanderte, zuckte erneut ein sachtes Lächeln über seine Lippen, das zu gleichen Teilen freundlich wie wachsam wirkte. Doch dem naiven Reflex, die Hand unwillkürlich zurückzuziehen, gab Lucien nicht nach. „Sie stört... aber wird wieder. Ich hab‘ schon schlimmeres überlebt“, antwortete er ehrlich, tat das Thema damit aber auch leichthin ab. Was sicherlich eine Marotte seines Geschlechts, wie auch seines Alters war – und nicht zuletzt seines Charakters. Also folgte er lediglich dem Blick des Älteren nach oben und beließ es dabei.
Dort, direkt oberhalb von Taróns Hängematte, räkelte sich die Echse auf einem niedrigen Balken und beäugte ihn mit wachen, intelligenten Augen. „Ah...“, kommentierte Lucien mit einem hörbar amüsierten Unterton. „Ich glaube, wessen Schiff das ist, ist ein Thema, über das wir nochmal reden müssen.“ Wem genau diese Worte galten, war in diesem Moment nicht ganz klar, aber sie klangen verdächtig danach, als meine er die Echse. Denn erst danach kehrten die grünen Augen zurück zu dem Älteren. Und erst jetzt fuhr er sich mit der Hand noch einmal über die Stelle, an der die Kugel ihn getroffen hatte, schenkte der Wunde einen Hauch wohltuender Wärme, bevor er den Arm sinken ließ. „Ich bin eigentlich nur hergekommen, weil ich mich bei dir bedanken wollte. Für deine Hilfe neulich Nacht. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob wir das überlebt hätten, hättest du uns nicht auf halbem Weg abgefangen.“ Das Lächeln blieb auf seinen Zügen, doch in seiner Stimme schwang nichts anderes als die gebotene Aufrichtigkeit mit. Er sah keine Schwäche darin, dankbar zu sein und Leistungen anzuerkennen, die nicht seine eigenen waren – ganz im Gegensatz zu jenem Mann, der ihn lehrte, ein Schiff zu führen. In diesem Sinne war der sonst so von sich selbst überzeugte 21-Jährige erstaunlich bodenständig geblieben.


„Hm.“
Der Allzweckton aus dem Mund des Falken zeigte dieses Mal Zustimmung an. Lucien würde es überstehen – da war auch er sich sicher.
Gutmütiger Humor glitzerte in Taróns Augen, mit denen er Lucien dabei beobachtete, wie dieser wiederum zu Calwah empor sah.
Die Echse indes öffnete wie zur Antwort auf die Worte des jungen Käpt’ns ihr Maul zu einem irgendwie süffisant wirkenden Gähnen.
Tarón lachte leise.
„Nun – ich warne dich: der laufende Ledergürtel ist verdammt resistent gegenüber Argumenten. Aber er ist bestechlich – immerhin.“
Das zweite Mal, das Lucien seine Wunde streifte ließ Tarón unkommentiert. Stattdessen neigte sich der Kopf des Falken ein klein wenig, als er ihm zuhörte. Einen Dank? Hm. Das sprach in seinen Augen sehr für Lucien, der das Ganze ebenso herunterspielen oder als seinen eigenen Triumph hätte verkaufen können. Tarón nickte ihm mit einem leichten Lächeln und Augen die verrieten, dass er dieser Geste mehr sah, als nur eine oberflächliche Floskel, zu.
„Gern geschehen. Aber ich glaube ich habe mir vor allem selbst einen Gefallen getan – die Sphinx scheint mir nicht das schlechteste Schiff für eine neue Heuer.“
Sein – zugegebenermaßen bisher beschränkter – Eindruck von Kahn und Menschen war durchaus positiv – und Tarón wusste, dass das keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Er hatte sich schon mit anderen Kalibern rumschlagen müssen und wo schlecht gepflegte Schiffe und Ausrüstung ein Ärgernis für jeden Seemann waren, war die Gesellschaft einer miesen Crew auf Dauer unerträglich.
„Wie ich sagte: ich habe schon länger die Augen nach einer Gelegenheit offen gehalten weg von dieser Insel und wieder auf See zu kommen. Vielleicht war es rückblickend Glück, dass nicht irgendein schlechterer Kahn zuvor vorbeigekommen ist.“
Und ohne es ausdrücklich zu sagen, bezog er das auch wieder vornehmlich auf die Menschen. Um die ging es am Ende immer.
Über sein Gesicht huschte bei den nächsten Worten ein kurzer Schatten.
„Tut mir nur leid, dass es nicht alle geschafft haben.“
Besonders um den Jungen, den er nicht gekannt hatte. Er war lange genug auf See um zu wissen, dass die wenigsten von ihnen alt wurden – aber so jung zu verrecken war dennoch immer eine Tragödie.
Er atmete durch, seufzte und schüttelte den Gedanken ab. Was geschehen war, war geschehen.
„Aber wo wir dabei sind: wie kommt es, dass die Kopfgeldjäger derart scharf auf euch waren? Der Aufwand war beträchtlich, auch wenn ihr Plan nach wie vor verdammt stümperhaft daherkam.“


„Oh, ich werd’s mir merken“, antwortete Lucien amüsiert und warf noch einen flüchtigen, aber vielsagenden Blick auf die Echse oben an der Decke. Mit Tieren hatte der junge Captain wenig am Hut – sah man von dem Falken ab, den Talin einst mit gebrochenem Flügel im Wald gefunden und aufgepeppelt hatte, als sie noch Kinder gewesen waren. Doch das war etwas anderes. Um den Vogel hatte er sich gekümmert, weil seine Schwester ihn geliebt hatte, und nichts weiter. Jedes andere Tier, ob Katze oder Ziege, war für ihn letztlich nur Essen auf Beinen. Aber selbst er konnte sich der Faszination der geflügelten Echse nicht völlig entziehen. Und auch das mochte in seiner Kindheit begraben liegen.
Doch er schob den Gedanken und die Erinnerung an andere Zeiten beiseite und wandte sich wieder dem Seemann zu, dessen Worte ihm ein weiteres Mal ein Schmunzeln entlockten. „Ich werte das trotzdem mal als Kompliment.“ Er war pragmatisch genug, um Taróns Einschätzung zuzustimmen. So chaotisch diese Bande von Piraten auch sein mochte – es hätte ihn schlechter treffen können. Das gleiche hatte Lucien vor nur ein paar Wochen schließlich auch gedacht. Diese Crew war definitiv nicht das, was man sich unter blutrünstigen Piraten vorstellte, aber das war auch nicht das, was Lucien gewollt hätte. Was er und Talin sich ausgemalt hatten, als sie klein gewesen waren. Insofern passten sie zu ihm – und sie begannen, ihm ans Herz zu wachsen. Auch wenn das nicht so weit ging, dass er ihren Tod betrauert hätte. Zumindest nicht den eines jeden Crewmitglieds.
Trotzdem neigte er auf den Ausdruck des Mitgefühls, den Tarón ihm erwies, annehmend den Kopf. Die Spur eines Lächelns lag nach wie vor auf seinen Lippen, aber es hatte seine Belustigung verloren und in seiner Stimme lag keine Überheblichkeit. Er klang geradezu nüchtern, hinnehmend. „Das ist das Leben, das wir uns ausgesucht haben.“ Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Stattdessen sah sich Lucien nun kurz um, fand einen Augenblick später eine kleine Truhe, die er sich mit dem Fuß heran schob und die ihm darauf als provisorischer Sitzplatz diente, auf dem er sich mit einem leisen Seufzen und ein bisschen umständlicher als sonst niederließ. Dann zuckte er mit den Schultern, dachte darüber nach, wie viel er erzählen musste, um die Situation zu erklären. Nicht ganz sicher, ob er Enriques Vergangenheit als Marinesoldat offen erwähnen sollte. Doch wenn nicht jetzt und von ihm, würde Tarón es ohnehin früher oder später von einem anderen erfahren. Trotzdem zögerte er mit dieser Information. „Ich weiß nicht, ob du von diesem Gefangenentransporter gehört hast, der vor ein paar Wochen vor Asanu in die Luft geflogen ist? Das ging auf unsere Kappe. Und dabei sind ein paar sehr wichtige Männer gestorben und sicherlich auch ein paar üble Kerle davon gekommen, die besser auf Esmacil gelandet wären. Jedenfalls verzeiht unsere holde Königliche Marine so einen Schnitzer an ihrem guten Ruf nicht leicht. Noch dazu hatten wir Hilfe von Innen und ich bin mir fast sicher, dass sie auf zwei Verräter aus den eigenen Reihen noch schärfer sind, als auf das Schiff, das ihren Transporter versenkt hat.“ Er schüttelte nur leicht den Kopf, als wäre das nicht der Rede wert, bevor er mit ehrlichem Interesse in den grünen Augen wieder zu Tarón aufsah. „Was ist mit dir? Wie hat es dich auf dieses winzige Eiland verschlagen?“


Tarón nickte verstehend. Lucien war also eher von der emotional sparsamen Sorte. Eine oft fehlbewertete Eigenschaft, denn im Grunde war sie oftmals hilfreich – gerade für Menschen in Luciens Position. Nicht zu verwechseln mit bösartiger Kälte. Eher gleichzusetzen mit einem gesund distanzierten Blick auf die Dinge, die waren, wie sie nun einmal waren. Und mit seinen Worten hatte der junge Käpt’n Recht: sie hatten es sich ausgesucht. Sie allesamt. Und jeder wusste, dass ein solches Leben mitunter seinen Preis forderte.
„Aye.“ Stimmte er daher pragmatisch zu. In dieser Sache waren sie auf einem Nenner.
Tarón wartete gelassen ab, bis Lucien sich eine Sitzgelegenheit herangezogen und sich auf ihr niedergelassen hatte. Beobachtete ihn und nahm neben den Dingen, die er schließlich sagte, auch das zur Kenntnis, was sein Körper ihm verriet.
Der Falke lachte leise auf – und mehr als Belustigung lag Erstaunen in dem Ton.
„Wer hat davon nicht gehört? Die Morgenwind, aye?“
Mit einem leisen „Heh.“ rückte er sich etwas bequemer zurecht. Welch interessanten Informationen. Interessant und womöglich entscheidend. Das mit der Morgenwind war eine verhältnismäßig große Sache gewesen, die entsprechende Wellen geschlagen hatte.
Verräter in den eigenen Reihen also. In Gedanken ging er die Mannschaft kurz durch und zog vorerst seine Schlüsse – inwieweit er damit richtig lag würde sich sicher noch zeigen.
„Ja, das erklärt den Trubel allerdings. Hm…tja. Scheint also als würde es mit euch nicht langweilig werden!“
Diesmal hüpften seine Brauen belustigt nach oben. Dass diese Aussage eine bodenlose Untertreibung war wussten sie beide.
Auf die nächste Frage war er vorbereitet – sie zwang sich nahezu auf. Und Tarón hatte beschlossen Lucien eine ehrliche Antwort zu geben. Wenn auch womöglich keine vollständige. Es war gut möglich, dass der Käpt’n von der Aurora gehört hatte. Das Schiff und seine Mannschaft hatten sich genug Ruf verdient, ehe Taróns Dummheit sie an den Grund des Meeres befördert hatte. Was sie jedoch zum Kentern gebracht hatte wussten nur der Falke und die ein, zwei Seelen, die die Katastrophe ebenfalls überlebt hatten.
„Schiffbruch. Die Aurora, falls sie dir etwas sagt. Unschöne Sache. Sind mit einem Haufen anderer Piraten aneinandergeraten und die hatten leider die Oberhand. Wir sind fast alle abgesoffen.“
Wie leicht es ihm fiel darüber zu reden als sei das alles nur ein bedauerlicher kleiner Zwischenfall gewesen. Das Nagen der Ratten in seinem Hinterkopf zu ignorieren und eine weiterhin lockere Mine zur Schau zu stellen.
„Ich hab mich irgendwie bis zu diesem Eiland durchgeschlagen und dann saß ich fest, weil sich fast niemand dorthin verirrt, der ein vorzeigbares Schiff hat. Naja – und dann ging die Sache mit den Kopfgeldjägern auch schon los und nun sind wir beide hier.“


Relativ schnell fand Lucien eine Sitzposition, in der sich das Ziehen an seiner Seite ertragen ließ. Ein Bein im halben Schneidersitz auf der Kiste abgelegt, das andere locker ausgestreckt, erlaubte er sich ob der Überraschung in Taróns Lachen ein nicht ganz so bescheidenes Schmunzeln. Den Grund für diesen Überfall nannte er nicht, erzählte weder von seiner Gefangenschaft, noch davon, was Talin hatte anstellen müssen, um ihn ausfindig zu machen. Doch er war stolz auf seine kleine Schwester. Stolz darauf, was sie erreicht hatte. Stolz und wehmütig zugleich – und das war es, was in seinem Lächeln lag. „Genau die“, bestätigte er. „Sagen wir, wir suchen nicht unbedingt nach Ärger. Aber in letzter Zeit findet er uns von ganz allein.“
Nach wie vor lag ein Schmunzeln auf seinen Lippen. Sorgen machte er sich keine. Diese Art von Abenteuer, Risiko und Adrenalin war das, wonach er suchte. Nicht zwangsläufig das, was Talin und er sich als Kinder ausgemalt hatten, aber genau das, was er inzwischen wollte – und brauchte. Was sollte es auch anderes noch geben?
Dass Tarón bereits ganz ähnliche Erfahrungen mit dieser Art von Ärger gemacht hatte, verrieten dem jungen Captain seine nächsten Worte. Schiffbruch. Mit der Aurora. „Hm... Ich hab‘ von ihr gehört.“ Jahre war das inzwischen her. Als er unter dem Kommando seines Vaters die südlichen Inseln besuchte, sie dort ihre Geschäfte machten. Ein Schmuggler wusste gern, welche Fische noch im Ozean schwammen. Und wie groß sie waren. Begegnet war er ihr allerdings nie. Und auch von ihrem Untergang hatte er nichts gewusst. „Ein Jammer“, stellte er nicht ohne ehrliches Bedauern fest. Wenn auch so leise, dass die Worte auch an ihn selbst hätten gerichtet sein können.
Nachdenklich legten sich die grünen Augen wieder auf den Älteren, musterten ihn flüchtig. Fragte sich für einen Moment, ob wohl noch mehr hinter der Geschichte steckte. Doch Taróns Züge wirkten entspannt. Vielleicht nicht glücklich, aber... genügsam. Nun ja. Das war das Leben, das sie gewählt hatten, nicht wahr? Schiffe sanken. Menschen starben. Manchmal traf es die richtigen. Manchmal nicht. Lucien neigte leicht den Kopf, dann kehrte das Schmunzeln auf seine Lippen zurück. „Im Nachhinein wird auch klar, warum da sonst keiner angehalten hat.. Aber jetzt, da du ein Schiff gefunden hast, das dich von dieser Insel holen konnte – wohin zieht es dich als nächstes? Hast du Familie, die auf dich wartet?“


Natürlich war mehr an der Geschichte dran – musste es sein. Warum sollte eine Handvoll Piraten einen Gefangenentransport angreifen, wenn sie nicht einen Gefangenen befreien wollten? Eine Frage für ein andern Mal – ein leeres Feld in seinem Puzzle, das sich noch früh genug füllen würde. Vielleicht zusammen mit Informationen darüber wer die beiden Marine-Verräter waren.
Das Lächeln in Luciens Gesicht sprach auf jeden Fall seine eigene Sprache. Der Coup – welcher Art er auch genau gewesen sein musste – war offenbar geglückt, das alles kein Vorfall der Bedauern auslöste. Im Gegenteil. Und Tarón verstand ihn, weil er selbst wusste, was es hieß diese Art von Leben, von Abenteuer, zu führen – mit Allem, was das mit sich brachte.
„Aye…“ stimmte Tarón zu. Es war ein Jammer. Für ihn persönlich weit mehr als das, aber das ging nur ihn etwas an.
„War ein prächtiges Schiff…eins der schönsten, die ich je gesehen habe…nunja. Weg ist weg, nicht wahr?“
Denn so verhielt es sich. Was geschehen war, war geschehen – was fort war, war fort. Ein sehnsuchtsvoller Blick zurück brachte ihn da nicht weiter – deshalb richtete er ihn nach vorne.
„Nein.“ Er schüttelte lächelnd den Kopf und ignorierte das Bild von Isala, das vor seinem geistigen Auge aufstieg. Auch das war Vergangenheit – ohne ihn war ihr Leben hoffentlich längst in geregelte Bahnen gekommen. Kein Blick zurück…
Ein Lächeln seinerseits – wach, clever, wie die Augen, die Lucien nun sehr aufmerksam musterten.
„Ich bin so gesehen frei wie der Wind. Nur etwas zielloser.“
Er ließ den Blick schweifen, als würde er vor sich das ganze Schiff sehen.
„Von daher, Käpt’n, hätte ich Nichts dagegen einzuwenden ein wenig länger auf der Sphinx zu bleiben und zu sehen, wie es in diesem Abenteuer weitergeht – wenn ihr mich wollt und brauchen könnt. Ist ein gutes Schiff – und verdammt ungewöhnlich.“
Und damit lagen seine blauen Falkenaugen wieder auf dem anderen.


Weg war weg - so war es nun einmal. Lucien nickte bestätigend, ließ Tarón jedoch auch einen Moment in seinen Gedanken, seinen Erinnerungen, an ein Schiff, das ihm augenscheinlich viel bedeutet hatte. Die kleine Pause, die dadurch in ihrem Gespräch entstand, war nicht unangenehm und als der Ältere schließlich wieder das Wort ergriff, kehrte das Lächeln auf die Lippen des jungen Captains zurück. Befreit von der Trübsinnigkeit verlorener Gefährten, sodass sie das Thema in eine andere Richtung lenken konnten.
„Oh, Hände, die anpacken, können wir immer gebrauchen“, versicherte er ihm und neigte amüsiert den Kopf auf die Seite. „Wenn dir also der Sinn nach ein bisschen Abenteuer steht und du die Marine nicht scheust, bist du bei uns herzlich Willkommen, solange du möchtest. Wir sind allerdings nicht die Art von Piraten, wie du sie wahrscheinlich gewohnt bist.“ Die Aurora mochte ein gutes Schiff gewesen sein und ihre Besatzung aus guten Männern bestanden haben - aber sie hatte ihren Ruf. Genauso, wie es die Schiffe der Tarlenn hatten. Ehrlich, loyal, aber unerbittlich bis skrupellos. Die Mannschaft der Sphinx war da anders. „Passend zum Schiff“, hängte er mit leiser Belustigung in der Stimme hintenan, um auf Taróns eigene Worte anzuspielen. Ihn überraschte selbst, wie passend dieser Vergleich war. „Könnte irgendwann eine wirklich gute Geschichte abgeben, wenn du mich fragst.“ Eine Piratencrew, so außergewöhnlich, wie ihr Schiff.
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte Wehmut über seine Züge. Er dachte an die beste Fechterin aller Sieben Welten und den Jungen, der auszog, um die Drachen zu finden, und sein Blick huschte wieder hinauf zu der Echse, die auf dem Balken an der Decke hockte. Bis er seine Gefühle wieder im Griff hatte und die Belustigung in die grünen Augen zurückkehrte. „Und wenn ich mir euch zwei so anschaue, passt ihr genauso gut zu uns und diesem Schiff“, stellte er fest.


Nicht die Art Piraten, die er gewohnt war – ja…das hatte er sich bereits gedacht. Nur ein kurzer Eindruck, den er sich bisher hatte machen können – aber er vertraute seiner Menschenkenntnis. Und er begrüßte was sie ihm sagte.
Es war nicht so, dass Tarón mit seinem bisherigen Leben unzufrieden gewesen war – sah man von den Tragödien ab, auf die er natürlich gerne verzichtet hätte. Das raue Leben, ein Leben geprägt von Brutalität und Blut aber auch von echter Kameradschaft hatte er so lange geführt, dass jeder Zweifel daran lange Zeit im Sumpf des Alltags ertrunken gelegen hatte. Ja: er hatte Dinge getan, auf die er selbst nicht stolz war, doch wirklich bereut hatte er sie nicht. Das tat er auch jetzt nicht, auch wenn er sie vielleicht mit etwas anderen Augen sah. Man tat, was man tun musste und manchmal hieß das, dass man sich mit dem Blut derer befleckte, die dieses Schicksal vielleicht nicht verdient hatten. Das war der Lauf der Welt – zumindest der Welt, in der er nun schon so lange gelebt hatte. Doch genossen hatte er das Töten nie.
Er kannte den Rausch der Überlegenheit. Das Bravado eines jüngeren Selbst das in eitler Arroganz alles was es tat für gerecht und gut hielt. Doch selbst damals war es nicht das Blut, an dem er sich betrunken hatte.
Die Aussicht darauf es in Zukunft vielleicht etwas weniger blutrünstig, etwas weniger skrupellos und kaltblütig angehen zu können lockte ihn. Vielleicht wurde er wirklich alt. Vielleicht verstand er auch nur langsam, das Leid immer auch eine Frage der Perspektive war. Mittlerweile hatte er selbst gelitten. Mittlerweile verstand er, was Verlust wirklich bedeutete.
„Hm. Ich denke, Lucien, das ist eine gute Sache. Anders, meine ich. Etwas Neues. Ich denke, das könnte mir gefallen. Und für gute Geschichten bin ich ohnehin immer zu haben.“
Er warf dem anderen ein cleveres Grinsen zu und für einen Moment schienen die Jahre von ihm abgefallen. Ein Junge, der an den Ständen Chikarns vom Mehr im Meer und all den Abenteuern träumte, die sich in den Weiten der Welten finden ließen.
Und auch über Luciens Zügen meinte er eine Welle aus dem Ozean der Vergangenheit streifen zu sehen. Letztendlich waren sie wohl alle einmal Jungen gewesen – Träumer, die das Meer gelockt hatte.
„Warte, bis das Echsenvieh in sein rotes Schuppenkleid wechselt – dann fällt er vor den Segeln garnicht mehr auf.“
Lachte er gutgelaunt, ehe er wieder etwas nachdenklicher wurde.
„Ungewöhnlich, in der Tat – die Sphinx stammt nicht aus der ersten Welt.“
Eine Feststellung – ein Schiff wie sie hatte er bisher nicht gesehen und auch wenn es hin und wieder immer einmal besonders auffällige und andersartige Schiffe gab, wirkte die Sphinx wahrlich als käme sie von einem ganz anderen Ort. Er müsste sich schon sehr irren, wenn sie in einer Werft der ersten Welt gebaut worden wäre.
„Wie ist sie in eure Hände gekommen?“


Als Lucien den Blick schließlich wieder von der Echse löste und die tiefgrünen Augen auf Tarón richtete, erschien ein mildes, aber umso ehrlicheres Lächeln auf seinen Lippen, in dem ein deutlicher Ausdruck von Sympathie lag. Er glaubte dem Älteren in diesem Moment jedes seiner Worte. Glaubte eine Spur des Geistes in den sturmblauen Augen zu erkennen, der auch ihn beseelte – oder einst beseelt hatte. Würde es also das sein, was die Sphinx ihnen allen in Zukunft schenkte? Die Aussicht darauf, Teil einer Geschichte zu sein, die man sich in hundert Jahren noch erzählte? Die Aussicht auf Abenteuer, wie sie es sich vielleicht als Kinder erträumt hatten, fern vom düsteren Zynismus der Realität? Fern von Regeln, gesellschaftlichen Zwängen und dem, was ihre Mütter und Väter für sie bestimmt, was ihr Stand ihnen vorgegeben hatte? Wenn ja, dann wäre es genau das, was Talin und er sich in ihrer kindlichen Naivität vorgestellt hatten, als der Traum des Schiffes mit den roten Segeln in ihren Herzen wuchs. Dann hätte sie ihren Zweck erfüllt – für jeden, der sein Zuhause auf ihrem Deck fand. Ein seltsam romantischer Gedanke für seine Verhältnisse.
Lucien nickte schließlich nur, nahm damit den Wunsch, sich ihnen anzuschließen – was auch immer den Mann dazu bewog, nach etwas Neuem, etwas Anderem, als dem Bisherigen zu suchen – in aller Einfachheit an und hob den Blick noch einmal zu der Echse auf dem Balken. „Oh, er wechselt seine Farbe?“ Das war... bemerkenswert. Dennoch sprach er die Frage nur leise aus, wie zu sich selbst, ehe Tarón das Gespräch auch schon auf die Sphinx zurücklenkte. Der junge Captain stellte das Schuppentier also zunächst hintenan, auch wenn seine Neugier merklich zunahm. Stattdessen schüttelte er den Kopf. „Nein“, bestätigte er die Vermutung des Älteren. „Zumindest nicht dass ich wüsste. Vielleicht aus einer der angrenzenden Welten, aber ich bin selbst nie weit genug gesegelt, um Schiffen von dort zu begegnen.“
Wie von selbst wanderte sein Blick durch das Mannschaftsdeck, das sich mit den Geschützluken, zwischen Balken gespannten Hängematten und sicher vertäuten Kisten und Säcken zumindest hier nicht nennenswert von jedem anderen Schiff unterschied. Auffälliger waren die Segel und der fehlende Kiel – und diese undefinierbaren Wände, die den Frachtraum zerteilten. Und nicht zuletzt die Tatsache, dass es dank der verbauten Mechanik nicht mehr als vier bis sechs Mann brauchte, um sie zu steuern. Ganz im Gegensatz zu jedem anderen Schiff dieser Größe, das er kannte.
Bei Taróns Frage stahl sich dann wieder ein amüsiertes Schmunzeln auf seine Lippen. Er wandte den Kopf zurück zu dem Älteren. „Gestohlen.“ In seinen Augen blitzte der Schalk auf. „Man könnte aber auch ‚befreit‘ sagen, wenn man sie selbst fragt.“ Wobei er mit ‚sie‘ in diesem Fall das Schiff meinte. „Sie gehörte einem mittelklassigen Piraten namens Rondo, der sie ganz bestimmt auch nur von irgendjemandem gestohlen hat. Talin hat als Schiffsjunge verkleidet bei ihm angeheuert und die Mannschaft zu einer Meuterei aufgestachelt. Der eigentliche Plan war, das Schiff meines Vaters zu übernehmen, aber die Mytilus ist vor knapp zwei Jahren versenkt und ich bin verhaftet worden. Talin musste also improvisieren.“ Er zuckte flüchtig mit den Schultern und auch wenn er über den Grund für den Überfall auf den Gefangenentransporter bisher geschwiegen hatte, war es doch auch kein Geheimnis. Nun erklärte er sich wohl von selbst. „Jedenfalls... sie war in grauenhaftem Zustand – ist sie noch. Wir steuern also Tarlenngebiet an, um sie reparieren zu lassen. Talin hat... Freunde dort. Falls dich interessiert, wohin es als Nächstes geht.“ zwar endete Lucien mit einem Schmunzeln, doch dass ihm Talins Beziehung zu den Tarlenn nicht behagte, lag deutlich in seiner Stimme.


Für einen Moment spürte Tarón das Band einer verwandten Seele, als Lucien seinem Blick mit dem eigenen begegnete und hielt. Er wagte es, dies als weiteres gutes Zeichen für die nahe Zukunft zu verbuchen – vor allem, weil er das, was aus Luciens Augen zu ihm herüberstrahlte als ehrlich ansah.
 Das Nicken des Käpt‘n bestätigte wohl, dass auch Lucien seinen Worten Glauben schenkte und ihn in der Crew willkommen hieß.
Taróns Mund formte ein seichtes Lächeln, als er Luciens Augen wieder zu Calwah wandern sah und den Ausdruck auf dem Gesicht des anderen las, von dem sich Fragmente auch in seinen leisen Worten wiederfanden. Ein Hauch von Faszination. Etwas, das auch Lucien jünger wirken ließ, als er war und ihn Tarón erneut sehr sympatisch machte.
„Aye…“ bestätigte er genauso leise. Auch Taróns Blick glitt erneut hinauf zu der Echse und blieb an einem ihrer über den Balken ragenden Flügelchen hängen.
Die beobachtete er weiterhin, als Lucien seine Feststellung kommentierte und Tarón über die Worte nachdachte.
„Hm.“
Gab der Falke schlicht zur Antwort und nickte nachdenklich. Noch ein Geheimnis.
Ein anderes klärte sich unterdessen. Luciens Antwort brachte den Falken dazu seinen Blick wieder auf den Jüngeren zu richten. Natürlich war sie gestohlen – hatte er etwas Anderes erwartet? Nein, denn auch das passte in die Geschichte und manche Dinge hatten die Eigenart sich nahtlos in sie zu fügen. Interessant und unerwartet war, dass es nicht Lucien selbst gewesen war, der sie gestohlen hatte. Auch das Funkeln in Luciens Augen kam ihm bekannt vor. Eine vielleicht verdrehte aber gute Art von Stolz, die er selbst kannte – dass dieser nicht alleine ihm selbst galt ergab noch einen Pluspunkt für den jungen Käpt‘n. Schmunzelnd hörte Tarón zu, lachte sogar leise, tief und anerkennend, als er hörte, wie Talin sich in die Mannschaft eingeschlichen und sie aufgestachelt hatte. Dabei entgingen ihm jedoch nicht die anderen Details in Luciens Worten. Und in seinem Kopf klickten Puzzleteile leise an ihre Plätze. Darum also die Morgenwind. Nur mit seinem Blick ließ Tarón Lucien wissen, dass er diesen Zusammenhang mühelos erkannt hatte. Und auch wenn sich dabei ein weiteres Fass mit Fragen öffnete beließ er es zunächst dabei, um Lucien nicht gleich zu sehr mit ihnen auf die Pelle zu rücken. Gefangennahme – eine hoch dramatische Flucht. Das waren Dinge, in denen Schatten lauerten. Es war noch zu früh diese heraufzubeschwören, nur um seine Neugierde zu stillen.
Und auch ohne diese wahrscheinlich wenig schöne Zeit weiter mit Lucien zu diskutieren, ergab sich auch so neues Futter für diese Neugierde – und neue Fragen.
Die Tarlenn also…nun gut. Das konnte noch nützlich sein. Nicht gefahrlos…aber nützlich. Und ähnlich sah es wohl auch Lucien, denn dem behagte das ganze offenbar wenig – dennoch nahm er es in Kauf.
„Ja, sie hat sicher schon bessere Tage erlebt.“ Der Zustand des Schiffes war ihm auch schon aufgefallen – natürlich. Dennoch schien die Sphinx einen noch immer brauchbaren Eindruck zu machen auch wenn sie vor Jahren wohl noch einen ganz anderen Glanz verströmt haben musste.
„Mich interessiert immer wohin es als nächstes geht.“ Stellte er mit einem verschmitzten Grinsen in den Raum. „Talins Freunde – nicht deine?“


Obgleich seine Sympathie mit diesem Mann mit jeder Minute wuchs, kam Lucien doch nicht umhin, eines zu bemerken: Tarón hatte einen wachsamen Blick, einen scharfen Verstand. Es war die Art, wie er den jungen Captain musterte, wie das Wissen in den Sturmaugen aufblitzte. Die Kenntnis von Dingen, die niemand aussprechen musste, weil er die Fähigkeit besaß, sie sich zu erschließen. Zusammenhänge. Geheimnisse...
Ein unabdingbares Talent für einen echten Strategen und ganz gewiss von größtem Nutzen. Aber umso bedrohlicher für einen Mann, der stets die Maske freundschaftlicher Offenheit zur Schau trug, um von dem abzulenken, was dahinter lag. Einem Schauspieler, wie Lucien es war. Es erinnerte ihn unweigerlich an Ceallagh – den einzigen Menschen, in seinem Leben, den er einst ohne Zögern als Freund bezeichnet hätte. Und der die gleiche Fähigkeit besaß, mehr zu sehen, als er sehen sollte.
Irgendwo schwankend zwischen Sympathie und Misstrauen, zwischen Faszination und Angst, beschloss Lucien, Tarón mit der nötigen Wachsamkeit zu begegnen. Eine Vorsicht, die ihm nach endlos erscheinenden Jahren in Fleisch und Blut übergegangen war. Und von der er zumindest ein halbes Jahr lang geglaubt hatte, sie ablegen zu können.
Ein schweres Ausatmen offenbarte seinen Missmut, als die Fragen seines Gegenübers sich auf die Tarlenn fokussierten. „Nicht meine Freunde, nein.“ Für einen Moment des Haderns biss er die Zähne aufeinander, sodass sich die mahlenden Muskeln seiner Kiefer deutlich unter der wettergegerbten Haut seiner Züge abzeichneten. „Ich habe nichts gegen die Tarlenn, aber ich halte auch nichts davon, in ihrer Schuld zu stehen.“ Die tiefgrünen Augen kreuzten den Blick seines Gegenübers. „So lange, wie du auf See warst, vermute ich, du kennst die Geschichten selbst. Kein Tarlenn erweist einfach so einen Gefallen. Sie sind mit Gegenleistungen verbunden - immer. Und ich bin nicht gern jemandes Marionette.
Er stieß ein leises Schnauben aus, schüttelte den Kopf, als ließe sich der Gedanke damit vertreiben, und machte dann Anstalten, sich mühsam wieder zu erheben. „Aber gut, es ist jetzt, wie es ist. Machen wir das Beste draus.“ Das amüsierte Funkeln kehrte zurück in seinen Blick und vertrieb den Gedanken an die Tarlenn. „Ich überlasse dich jetzt wieder deiner Hängematte und deinem schuppigen Freund da oben. Wer weiß, wie lange wir noch die Gelegenheit haben, einfach nur ein bisschen rumzuhängen.