Von Mahlströmen und Meerjungfrauen - Talin Dravean - 26.04.2021
Von Mahlströmen und Meerjungfrauen Später Abend
Talin & Lucien 27. Juni 1811 | Dorf auf Kelekuna | Wirtshaus
Die laue Nachtluft strich fordernd um die Häuser des kleinen Dörfchen und brachte jeden, der nicht draußen sein musste, dazu, an einen freundlichen Ort bei einem guten Gläschen und in netter Gesellschaft aufzuhalten. Vielleicht sagte sie auch einfach nur, die Frauen sollten zu Hause auf ihre Männer warten, die in der Taverne saßen, becherten und den Geschichten des kürzlich angekommenen Barden lauschten. Dementsprechend gut gefüllt war das hell erleuchtete Gebäude auch. Es hätte ein friedliches Bild ergeben können, wenn nicht an einem der hellen Fenster ein kleines Mädchen versucht hätte, hinein zu spähen.
Talin stand auf einer wackeligen Konstruktion aus einer großen und einer kleineren Holzkiste auf Zehnspitzen und versuchte in dem schummrigen Raum etwas zu erkennen. Durch das blinde Fenster konnte sie verschwommen ein paar der Männer erkennen, darunter auch ihren Vater. Als er ein wenig den Kopf drehte – wahrscheinlich um mit jemandem an seinem Tisch zu sprechen, duckte das blonde Mädchen sich ruckartig, in der Hoffnung er sah sie nicht. Erst nachdem ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte, richtete die Kleine sich langsam wieder auf und lugte zaghaft in den Raum hinein. Die hellen Kerzen auf den wahllos verteilten Holztischen spendeten ein bisschen Licht, zeigten ihr das die Taverne gut besucht war. Auch der Tresen, hinter dem sowohl der Wirt als auch sein Sohn standen, war voll besetzt und alle Männer sahen gebannt auf eine kleine Erhöhung weiter hinten im Raum, die mit Kerzen erhellt wurde. Dort saß der Barde. Er war so weit weg, dass Talin nur das leise Gemurmel seiner Stimme hören konnte, aber es interessierte sie auch gar nicht so sehr, was er erzählte. Sie wusste, Lucien würde ihr die Geschichte später viel besser vortragen. Es war auch gar nicht so sehr der Barde, der sie hierher gelockt hatte. Eher wollte sie dem Verbot ihrer Eltern zuwider handeln und hoffte darauf, dass ihr großer Bruder bald nach der Geschichte sich aus der Taverne schlich und sie noch ein wenig durch die Wälder streifen konnten. Aber so lange würde sie noch an diesem Fenster stehen und in diese fremde Welt dort drin hineinsehen.
RE: Von Mahlströmen und Meerjungfrauen - Lucien Dravean - 24.08.2021
Wie die Brandung an den Klippen erfüllten gedämpfte Männerstimmen den Raum, schwollen mal an und mal ab. Die Luft erfüllt vom Rauch der Pfeifen und Zigarren, vom Geruch nach Schweiß und Ruß, Alkohol und der deftigen Hausmannssuppe, die der Wirt als Abendgericht anbot. Ein einfaches Gericht aus den wenigen Zutaten, die ihnen auf Kelekuna in Massen zur Verfügung standen – Kartoffeln, Hammel und Gewürz. Doch Lucien kannte es nicht anders und vielleicht roch es deshalb so gut, weil er davon essen durfte, so viel er wollte. Und weil die Abende, an denen er mit seinem Vater nach unten in die Taverne am Hafen kommen durfte, so selten waren. Er nahm seinen Sohn nicht oft mit. Doch heute schien er zufrieden mit ihm gewesen zu sein und der Zehnjährige begann zu ahnen, welches Glück das dieses Mal für ihn war.
Im fast allgegenwärtigen Zwielicht des Raumes stand der Dunkelhaarige hinter einem Stützbalken, so dicht am Platz des Barden, wie er es eben wagte. Seine Hände lagen an dem rauen Holz, während die tiefgrünen Augen mit begierigem Interesse auf dem Mann ruhte, der Zeit und Ort entrückt seine Geschichte erzählte. Die Geschichte eines gierigen Kapitäns und eines naiven Trunkenbolds. Und das junge Herz sog seine Worte tief in sich auf, schlug in tiefer Sehnsucht schneller.
Als die Erzählung schließlich endete, schnappte Lucien leise nach Luft und schlug sich sofort die Hand vor den Mund – denn obwohl die Geräuschkulisse ihn hätte übertönen müssen, sah der Barde in diesem Moment auf, direkt in den Blick des Jungen, der ihm so an den Lippen hing.
„Lucien!“ Die herrische Stimme Kalem Draveans riss seinen Sohn vom Anblick des Geschichtenerzählers los und er wandte den Kopf herum. „Hör auf, den Mann zu belästigen und setz dich!“ Mühsam unterdrückte der Dunkelhaarige eine pampige Antwort. Was daran sollte denn bitte 'belästigen' sein? Doch fast sofort wechselte der Ausdruck von Verbitterung zu Überraschung und er drehte sich instinktiv zum Tisch seines Vaters um, bevor er sich besann und seine Züge sich etwas glätteten. „Ich muss mal“, platzte es ohne lange nachzudenken aus ihm heraus und ganz wie erwartet winkte der bärtige Mann kopfschüttelnd ab und wandte sich mit einem flüchtig genervtem „dann geh“ bereits wieder den Männern an seinem Tisch zu.
Nur ein kurzes Zögern, ein kurzer Blick über die Schulter in Richtung des Barden, dann stieß Lucien sich eilig von dem Stützbalken ab und rannte zur Tür. Und eilig hatte er es wirklich. Er musste nur nicht, wie behauptet, ins Gebüsch.
Als die Tavernentür hinter ihm ins Schloss fiel, empfing ihn klare Luft und Dunkelheit. Er atmete eine Sekunde lang tief durch und sah sich dann suchend um. „Talin?“, zischte er leise, fragend. Doch es dauerte eine Weile, bis seine Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnten.
RE: Von Mahlströmen und Meerjungfrauen - Talin Dravean - 07.12.2021
Gebannt verfolgte sie die Bewegungen der Männer, wenn sie ihre Krüge zusammenstießen oder sie an ihre Lippen hoben. Das Mädchen fragte sich, wie es wohl schmecken würde, wenn sie dieses Getränk, das sie Alkohol nannten, kosten würde. Wenn es ihnen allen immer so gut schmeckte, dann musste es so süß wie die Brombeeren im Wald sein, dass stellte sie sich lecker vor.
Noch völlig mit der Vorstellung beschäftigt, entging ihr, wie eine kleine Gestalt die Taverne verließ, nachdem sie einen blonden Schopf am Fenster gesehen hatte. Das leise Quietschen der Tür hätte sie eigentlich vorwarnen müssen, aber sie sah nur verträumt durch das Fenster in diese fremde Welt. Erst diese leise gezischte Erwähnung ihres Namens, ließ sie zusammenzucken, das Gleichgewicht auf ihren Zehnspitzen verlieren und auf der kleinen Holzkiste hin und her balancieren. Hätte sie besser aufgepasst, statt zu träumen, hätte sie sich nicht so sehr erschrecken müssen. Jetzt musste sie mit der Quittung leben. Mit einem leisen Schrei, kippelte die Kiste noch einmal hin und her, bevor sie schließlich nach hinten um fiel und das blonde Mädchen sich an dem kleinen Fenstersims festhalten musste, um nicht der kleinen Holzkiste zu folgen. Statt wie eigentlich geplant, fiel sie Lucien nicht um den Hals, um ihn anschließend zu entführen. Stattdessen hing sie nun da, konnte die untere Kiste mit den Füßen nicht erreichen und schnappte leicht panisch nach Luft.
„Lucien!“, rief sie leise. Ihre Stimme klang nicht so fragend, wie die ihres Bruders, sondern ein kleines bisschen ängstlich. Niemals würde sie zugeben, dass zu empfinden, aber ganz aus ihrer Stimme verbannen, konnte sie dieses Gefühl auch nicht. Es beruhigte sie auch nicht, dass es zum Glück nur ihr Bruder war, der sie so sehen würde, denn auch vor ihm wollte sie nicht so peinlich an einem Fenstersims hängen.
RE: Von Mahlströmen und Meerjungfrauen - Lucien Dravean - 08.12.2021
Nach und nach schälten sich die Umrisse der umstehenden Gebäude aus der Dunkelheit. Das Hafenbecken mit der ruhigen, im Mondlicht glitzernden Wasseroberfläche, die Umrisse der Fischerboote und des friedlich schlummernden Zweimasters, der seinem Vater gehörte. Aber keine Talin.
Plötzlich ertönte links von ihm ein leises Rumpeln, dann eine junge, leicht panische Mädchenstimme, die Lucien sofort als die seiner Schwester erkannte. Alarmiert setzte er sich wieder in Bewegung, kam hastig um die Ecke der Taverne gelaufen, von wo er die Geräusche vernommen hatte und wo sich auch das Fenster befand, in dem er Talins blonden Schopf von innen hatte sehen können. Ein, zwei Schritte trug ihn seine Eile, ehe er es schaffte, wieder stehen zu bleiben und in einem Anflug von Verblüffung und Belustigung die Augenbrauen in die Höhe zog. Nicht ganz sicher, ob er bei diesem Anblick nun lachen oder besorgt sein sollte. Das kaum siebenjährige Mädchen klammerte sich mit beiden Händen an den Sims des hoch liegenden Fensters. Die Kiste, die sie wie ein Podest auf eine andere gestapelt haben musste, lag einen guten Schritt weit entfernt unnütz im Gras und zwischen ihren zappelnden Füßen und der unteren Kiste lag noch gut ein Fuß Luft. Für sie also unmöglich zu erreichen.
„Halt dich fest!“, riet er ihr überflüssigerweise und mit einem kleinen Glucksen in der Stimme. Denn vermutlich hatte sie nicht vor, demnächst loszulassen und sich beim Aufprall auf ihr Podest vielleicht noch den Fuß zu brechen! Doch auch wenn er sich ein ganz kleines bisschen amüsierte, ließ er seine Schwester nicht einfach im Stich. Noch während er sprach, lief er zu ihr hinüber und kletterte ein bisschen umständlich auf die Kiste direkt unter ihr. Da Lucien selbst kaum größer als seine Schwester war – der Wachstumsschub würde wohl noch kommen – reichte er ihr so zwar auch nur bis zu den Schultern, aber das genügte völlig, um die Arme seitlich um ihre Taille zu legen. „Lass los, ich hab dich!“ Im Gegensatz zu gerade eben lag nun warme Sicherheit in seiner Stimme. Wenn sie losließ, würde er sie festhalten.