Rúnar grinste. Calwah legte den Kopf schief und trapste dann auf den Lichtpunkt zu, testete ihn aus. "Siehst du, das ist doch viel spannender", sagte Rúnar leise. Mit derselben Stimme, mit der er auch einem Pferd etwas zuflüstern würde, während er dessen Hals klopfen und es für seine gute Arbeit lobte.
Bevor Calwah kapierte, dass dem Ding, dem er seine Aufmerksamkeit schenken wollte, tatsächlich gar nicht so spannend war, legte Rúnar das Messer weg und nahm ihn hoch -- sanft, wie einen Vogel, die Flügel an den Rücken angelegt. Er strich mit dem Daumen über den schuppigen Kopf.
Rúnar stand auf. Die verletzte Frau starrte ihn verwirrt an, wandte ihre Aufmerksamkeit aber an eine andere Frau, die sie mit sich ziehen wollte. Sie sah zwischen Rúnar, Tarón und Gregory hin und her. "Gehört die einem von euch?" giftete sie. "Wem sie auch gehört - der darf mir die medizinische Versorgung zahlen."
"Na, komm. Ist doch halb so wild", murmelte die Helferin.
Der Freier machte eine ausladende Handbewegung, eine Geste für: Na, super, und jetzt?
So ungern Rúnar Tarón vor der Gebissenen bloßstellen wollte, ihm blieb wohl keine Wahl, denn Calwah fing an, sich in Rúnars Hand zu winden. "O-oh." Er eilte die paar Schritte zu Tarón rüber. Die Echse versuchte, ihm aus den Händen zu schlüpfen und Rúnar versuchte ihn seinem Besitzer zu reichen. "Schnell, schnell."
{ Bar | mit Gregory, Tarón und Isala | mit zwei Prostituierten und einem Freier }
'Ich habe genug von ihm gesehen, um ihn unter Tausenden wieder zu finden.'
Josiah hatte Shanayas Blick kurz auf sich gespürt, ehe sie seine Frage beantwortet hatte und auf die Straße hinausgetreten war.
Was für eine grandiose Antwort. So vielsagend und übervoll von Informationen.
Josiah machte einen schlendernden Schritt nach vorne und begutachtete halbherzig einen kleinwüchsigen Händler mit einer knolligen Nase, der mit einem noch kleineren Weib neben ihm schimpfte. Shanayas radikale Wortkargheit überraschte ihn ein wenig. War seine Anwesenheit ihr so zuwider? Wollte sie allen Ernstes alleine weiter humpeln und die Nadel im Heuhaufen suchen? Oder hatte sie sein Gesicht einfach nicht gut genug gesehen und wollte das nur nicht zugeben?
Kurz beobachtete er sie kritisch von der Seite. Er hoffte, dass sie nicht dem Falschen eine auf den Deckel geben würde, weil sie ihn mit jemanden verwechselte. Das wäre noch schöner Lucien zu erklären als eine abgehauene Shanaya.
Gleichzeitig geisterten alte Fragen durch seinen Kopf. ‚Wenn du die Nase mit einem Gemüse vergleichen müsstest, welches wäre es dann?‘ oder ‚Wie viel größer war er als du? Welche Farbe hatten seine Haare?‘
Wie lange war es her, dass er das letzte Mal jemanden diese Fragen gestellt hatte? Eine gefühlte Ewigkeit lag zwischen seinem jetzigen und damaligen Leben.
Jetzt lagen sie ihm wieder auf der Zunge, wie alte Freunde, doch er ließ sie unausgesprochen. Noch, wenigstens.
Josiah ließ seinen Blick weiter gleiten. Zwei Hausfrauen kamen hektisch die Straße hinuntergeeilt, beide Körper unter den Armen, und verschwanden nach einem kurzen Abschied in zwei nebeneinander liegenden Häusern. Etwas weiter hinter ihr tuschelte eine Frau mit braunen Locken mit einem Mann und deutete auf etwas, was er in seinen Händen hielt. Der Händler neben ihnen sortierte konzentriert seine Ware und blickte dabei immer wieder misstrauisch zu einem Jungen hinüber, der Kisten neben seinen Stand umstapelte. Alle waren sie beschäftigt. In ihr eigenes Treiben vertieft, konzentriert auf ihren Glauben, dass sie die Welt um sie drehe. Josiah bezweifelte, dass auch nur einer ihnen darüber Auskunft geben könnte, wohin ein Bettler, der vor wenigen Augenblicken aus der Gasse gekommen sein müsste, hin verschwunden sein könnte.
Josiah ließ seinen Blick weiter gleiten. Sein Gesicht blieb nicht lange in den Gesichtern der Menschen – abgesehen davon, dass er den Kerl ohnehin nicht wieder erkennen würde, bezweifelte er auch, dass er sich noch in direkter Nähe befand. Stattdessen dachte er nach und ließ seine Gedanken springen, inspiriert von dem, was er sah.
Sie hätten einfach drauflos spazieren können, doch Josiah war kein Freund von vertaner Zeit. Und als sein Blick die Gestalten einige Schritte weiter entdeckte, musste er unweigerlich Grinsen. In einer fließenden Bewegung drehte er sich zu Shanaya um.
„Bitte einmal den Weg ändern, euer Wissen wird gleich gebraucht.“, setzte er an und deutete mit einem Nicken auf die andere Straßenseite, ehe sein Blick wieder den ihren suchte:
„Wir besorgen uns ein paar weitere offene Augen und Ohren auf den Straßen. Außer du bist zu stolz um die Suche etwas zu beschleunigen.“
Provokant sah er sie an, das stumme Gebet, dass sie es nicht war, hinter hochgezogenen Augenbrauen versteckend.
Es wäre gewagt, die örtlichen Kinder mit einzubeziehen. Er kannte sie noch nicht, sie kannten ihn nicht. Es war möglich, dass sie das Geld nahmen und sich damit irgendwohin verzogen. Aber wenigstens war es unwahrscheinlich, dass sie sie verrieten. Und Kinder…. Kinder blieben Kinder. Und Josiah hatte die Erfahrung gemacht, dass Kinder überraschend gut darin waren, Leute zu finden.Ooder Informationen. Sie wurden übersehen, waren unerschrockener als so mancher Erwachsener. Und sie waren weniger hinterhältig, oder wenigstens weniger hinterhältiger wenn es darum ging, Erwachsene an andere Erwachsene zu verpfeifen. Und meistens war ihnen langweilig, vor allem in der Stadt. Wo Kinder auf den Land oft früh in die Arbeit mit einbezogen wurden, hatten sie in der Stadt oftmals mehr Freiheiten und weniger Aufgaben, die Erwachsene ihnen anvertrauten. Sie wurden gerne unterschätzt, und genau das machte sie stark.
Abwartend sah er zu Shanaya.
Nathan hatte sich eine sehr günstige Gelegenheit durch die Lappen gehen lassen. Aber es half ja nichts, dieser hinterher zu trauern. Wenn ihn Flint bei dieser Gruppe erwischt hätte, so hätte Nathan auch schlechte Karten gehabt. Seine neuen „Freunde“ hätten ihm nicht helfen können. Oder auch nur wollen... Schade, aber so galt es, die Beine in die Hand zu nehmen und die nächste Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen. Das Misstrauen der drei Piraten hatte fast greifbar in der Luft gelegen, und das, was Nathan nun am wenigsten brauchen konnte, war, dass er eine neue Gruppe hatte, die ihn jagte. Vielleicht war es also gut so. Denn der Schwindel wäre recht bald aufgeflogen, spätestens dann, wenn die Dunkelhaarige die Augen verdreht hätte, ohnmächtig wurde, und die beiden Begleiter nach einem Doktor verlangten. Spätestens dann wäre herausgekommen, dass Nathan keinen Schimmer hatte, wo in der Stadt was zu finden war.
Er bog um die nächste Ecke, und versuchte sich einzuprägen, in welcher Richtung er unterwegs war. Erst einmal musste er raus aus dem Kern der Stadt. Vielleicht konnte er sich auf ein Schiff schmuggeln und als blinder Passagier weiterreisen. Natürlich hätte er bleiben und untertauchen können. Doch Flint erschien ihm gut betucht im wahrsten Sinne und einflussreich. Wer würde ihm Unterschlupf gewähren und damit den Zorn des Patriarchen riskieren? Weiterhin richtete er seine Schritte gen Südwest, allerdings brachte ihn das zu einem für seinen Geschmack zu vollen Teil der Stadt. Hier hatte er keinerlei Überblick, und würde sich auch nicht unbedingt rechtzeitig verstecken können. Ohne Hast bahnte er sich einen Weg durch die Menge und verschwand dann in einer einsamen Gasse, in der er sich von Berufs wegen schon sicherer fühlte.
Er bog um die nächste Ecke und stieß gegen etwas Weiches. „Verzeih…“, begann Nathan automatisch, als sich sein Blick und die seines Gegenübers begegneten und sie sich fast gleichzeitig erkannten. Nathan rutschte das Herz in die Hose, dann begann es wie wild in der Brust zu schlagen. Halb stolpernd wandte er sich um, um die Gasse zurückzulaufen, aber da kam der zweite Kleiderschrank auf ihn zu. "Verfluchte Sch..."
„Na, wen haben wir denn da?“
Hinter ihm war auch der Lockenkopf aufgetaucht, der ihm eben noch die Handtasche abgenommen hatte. Gehörte er zu Flints Männern?! Aber nein...Auch hier schienen die Leute sich aus irgendeinem Grund zu kennen und zu fürchten. Jedenfalls sah man in den Augen des Blonden, dass er gerade nicht sehr rosige Zeiten erwartete. Während sich Nathan mit wildem Blick nach einer Fluchtmöglichkeit umsah und er sich gleichzeitig versuchte, einen Reim auf die Anwesenheit des Lockenkopfes zu machen, tauchte eine weitere Gestalt vor ihnen auf. Nathan stöhnte halblaut auf. Es war Travis Flint selbst. Vor Schreck explodierte Nathans Herz förmlich und alle Farbe war dem Dieb aus dem Gesicht gewichen. Okay, das hier lief gar nicht gut. Gar nicht gut.
„Sieh an, sieh an. Wie die Ratten zieht es das Gesindel zusammen. Begleitet mich doch ein Stück, dann können wir noch einmal über alles reden.“
Das Lachen Flints war grausam und freudlos. Er war auf Rache aus, das wurde jedem noch so Begriffsstutzigen bewusst. Zwar verzichtete er darauf, Nathan gleich über den Haufen zu schießen, aber das, was er vohatte, war sicherlich lang und schmerzvoll. „Travis?“, begann Nate in vollendeter Verwunderung und schlug dem Mann mit einem freundschaftlichen Lächeln auf die Schulter. „Was macht ihr denn hier? Wie schön, dich zu sehen! Ich wollte gerade für unsere Gwenn…“
Man hätte Flints wuchtigem Körper diese Schnelligkeit gar nicht zugetraut, wie der zu Nathan herumwirbelte, ihm den Ellbogen ins Gesicht rammte, dass Nates Nase hörbar knackte und ihm das Blut aus dem Gesicht schoss. Nathan ging zu Boden und Flint setzte ihm mit glühenden Augen nach. „DU nimmst den Namen meiner Tochter nie wieder in deinen dreckigen Mund, Avery!“, zischte er unbeherrscht, drehte sich erneut um, und überließ es seinem Leibwächter, Nathan wieder auf die Füße zu lupfen. Nathan fühlte sich am Kragen gepackt, wie ein Kind in die Höhe gehoben und unsanft auf die Füße gestellt, hielt sich seine pochende Nase und sah ein, dass er verloren hatte, wenigstens für den Moment. Hoffentlich thematisierte sein blonder Leidgenosse nicht, dass er sich auch hier mit einem falschen Namen vorgestellt hatte. Es blieb Nathan nichts anderes übrig, als mit dem blonden Kerl neben ihm (warum war DER hier?!), Flint und seinen Männern zu folgen. An Flucht war zunächst nicht zu denken.
Nein, das hier lief gar nicht gut.
{ anfangs Liam, Flint und seinen beiden Leibwächtern in einer Gasse einige Straßen entfernt, dann ins Ungewisse geführt }
„Würde mir vielleicht jemand erklären, was beim Moder der Achten Welt hier eigentlich los ist?“
Eisig erhob sich die Stimme über die Köpfe der Anwesenden, deren Besitzerin über den kleinen Tumult hinweg unbemerkt den Raum betreten hatte. Flankiert von zwei bulligen Männern, deren Aufgabe es augenscheinlich war, Gäste vor die Tür zu befördern, die allzu gern übers Ziel hinaus schossen.
Sie war schön, auf eine reife Art und Weise. Das dezente Make Up verbarg die Spuren ihres Lebens nicht, hob sie vielmehr hervor. Kleine Fältchen an den Lippen und den Augen, erste blasse Unebenheiten auf Stirn und Wangen. Ein lachsfarbenes Seidenkleid umhüllte ihren schlanken, nicht zu dünnen Körper, jedoch so durchscheinend, dass es mehr zeigte als es verbarg. Ihre ganze Haltung, ihre Ausstrahlung sprach davon, dass sie sich mittlerweile in Kreisen bewegte, in denen man sich nur noch eine exquisite Auswahl an Stammkunden hielt. Vielmehr Liebhaber, als simple Freier. Und ja, sie hielt sie sich. Nicht umgekehrt. In den haselnussbraunen Augen funkelte routinierte Strenge.
„Medhel!“ Die junge Kurtisane stürzte zu der Älteren hinüber und warf sich an ihre Schulter. „Medhel, sie nur! Dieses Biest hat mich gebissen. Ich kann so wirklich nicht arbeiten!“
Medhel verdrehte mit kühlem Blick die Augen. „Du liebes bisschen, Ophelia, hör auf zu heulen. Bitte den Arzt, sich dein Bein anzusehen. Und lass dieses Gekeife.“
Jedes Wort, jede Tonlage, jede begleitende Geste erinnerte an die gewählte Ausdrucksweise des Hochadels. Selbst dann, als sie ihre Angestellte rügte. Auf ihrem Unterarm prangte die schwarze Sanduhr der Familie Tarlenn.
Sie winkte ungeduldig in Gregorys Richtung und die junge Kurtisane löste sich etwas bedröppelt von ihr, um der Anweisung nachzukommen. Dann wandte sich Medhel an den Mann, der noch etwas perplex aber nunmehr sichtlich verärgert von einem zum anderen starrte. Bevor er auch nur das Wort ergreifen konnte, lächelte die Ältere ein unerwartet weiches Lächeln.
„Mein Herr, ich bedaure diesen Zwischenfall zutiefst.“ Mit einer ausladenden Handbewegung wies sie in Richtung Garten. „Wie wäre es, wenn Sie sich draußen im Freibecken etwas entspannen. Ich schicke Ihnen ein anderes Mädchen, das Ihnen sicher gefallen wird. Sie ist sehr… wandelbar.“
Kurz noch schnappte der Mann wütend nach Luft, schien sich auf die Aussicht einer Entschädigung dann aber doch einzulassen und nickte grimmig.
Medhel trat mit langsamen, fließenden Bewegungen zu ihm, legte ihm vertraulich eine Hand auf die Schulter und wandte sich dann an das dritte Mädchen im Raum.
„Rana, sei so gut, und führe unseren Gast nach draußen. Und danach schickst du Lyra zu ihm. Sie müsste auf ihrem Zimmer sein.“
Das Mädchen gehorchte mit einem Knicks, reichte dem Mann eine zierliche Hand und beide verschwanden durch eine der Türen hinaus ins Freie.
Dann erst wandte Medhel sich Tarón, Rúnar und Isala zu. Von der Sanftheit auf ihren Zügen nun keine Spur mehr.
„Meine Herren. Ich schlage vor, sie vertreiben sich den Vormittag heute außerhalb meines Bordells. Ich habe bereits dafür gesorgt, dass der normale Hausbetrieb nicht in der Nähe ihrer Zimmer stattfindet, es wäre wirklich schön, wenn sie im Gegenzug darauf verzichten, meine Mädchen so aufzuschrecken. Also schaffen Sie mir diese Echse aus den Augen!“ Dem letzten Satz verlieh sie mit schneidender Stimme mehr Nachdruck. Und schließlich wandte sie sich mit einem verärgerten Stirnrunzeln an Isala. „Und du! Ich habe dich bereits mehrfach darauf hingewiesen, so nicht mit unseren Gästen zu sprechen. Es gibt Leute in diesem Haus, die sich darum kümmern. Wenn du also nicht in der Lage bist, dich diesbezüglich zu zügeln – wovon ich inzwischen ausgehen muss – dann ist es vielleicht das Beste, du suchst dir eine Beschäftigung außerhalb dieses Etablissements. Als Schankmädchen, möglicherweise. Du kannst gehen.“
Liam schwieg, erwiderte zuerst den Blick seines Gegenübers, ohne auch nur ein Hauch dessen Wiedersehensfreude zu teilen und fluchte still in sich hinein. Mit einem Mal war die schlechte Laune vom gestrigen Abend zurückgekehrt, die Anspannung und das Gefühl, dass man ihn für dumm verkaufen wollte. Allmählich begann er tatsächlich daran zu zweifeln, dass Zufall alles war, was einen durchs Leben lenkte. Seit geraumer Zeit fühlte er sich vom Pech verfolgt, wirklich verfolgt. Wie auf Kommando meldete sich das taube Kribbeln in den Fingern der rechten Hand, als würde es ihm beipflichten wollen, ihm vielleicht sogar noch auf diese Art und Weise gratulieren, dass er endlich dahinter gestiegen war, dass es nicht bloß ein ungünstiges Zusammentreffen von negativen Dingen war, sondern gewollt. Von wem oder was auch immer. Wäre er abergläubischer gewesen, hätte er sich vielleicht überzeugen lassen, aber so schnaubte er lediglich abfällig über sich selbst, suchte mit seiner Linken unauffällig nach seinem Messer und ließ die Hand dann doch wieder sinken, um nichts zu provozieren, was nicht sein sollte. Ihm war aufgefallen, dass die beiden Männer hinter und vor ‚Flint‘ genaustens aufpassten, was sie taten. Sie würden mit allen Mitteln verhindern, dass einer von ihnen entkam. Nicht so wie gestern. Inzwischen hatte der Lockenkopf Eins und Eins zusammengezählt und so liebreizend, wie er den Mann, der sie nun dazu anwies, ihnen zu folgen, kennengelernt hatte, hatte ihr Versagen dafür gesorgt, dass sie bei dieser Gelegenheit wirklich nichts dem Zufall überlassen würden. Er hatte also garkeine andere Wahl, als zu folgen. Die Marine war immerhin auch keine Option für ihn, davon abgesehen, dass er noch nie ein Mann gewesen war, der seine Angelegenheiten von anderen regeln ließ. Marine war also nicht nur keine Option für ihn, weil man ihn suchte, sondern auch, weil er schlichtweg nicht darauf kam.
Was er allerdings auch nicht gerne tat, war, seine Angelegenheiten auf Leute auszuweiten, die nichts damit zu tun hatten – vor allem, wenn er sie nicht einmal kannte. Er rechnete sich keine großen Chancen aus, den Blondschopf wirklich herausboxen zu können. Noch ging er nämlich davon aus, dass er mehr zufällig in die Situation geraten war und sein bleiches Gesicht allein daran lag, dass auch ihm bewusst geworden war, dass er hier in einen Hinterhalt geraten war. Gerade aber, als Liam sein Glück versuchen wollte, den breitschultrigen Mann dazu aufzufordern, den Unbeteiligten ziehen zu lassen, erwies sich besagter Unbeteiligter vielleicht sogar als Hauptbeteiligter. Seine Augenbrauen schoben sich überrascht und abwartend nach oben, als ‚Flint‘ nach vorne trat und fast schon freundschaftlich die Schulter des Kopfes der Gruppe umfasste. Travis schien diese ‚Freundschaft‘ allerdings gänzlich anders zu interpretieren. Liam zuckte zusammen, als er diesen Umstand auch sogleich schmerzhaft zur Schau stellte. Unschlüssig, ob es sich bloß nach Bruch anhörte, weil er eben wusste, wie es klang, oder weil es wirklich hörbar unter dem Ellenbogen des Größeren geknackt hatte, warf er ‚Flint‘ einen flüchtigen Blick zu. Jetzt stand er da und erinnerte Liam dem Umstand wegen irgendwie an Skadi bei ihrer ersten Begegnung. Und etwas anderes kratzte an seinem Gedächtnis. So offensichtlich der Namensschwindel jetzt aber auch war – mehr als den Nachnamen hatte er sich nicht behalten (und selbst das war nicht selbstverständlich). Damit jedenfalls war offensichtlich, dass sie offenbar beide in diesem Schlamassel steckten – unabhängig voneinander, aber trotzdem irgendwie zusammen. Liam hoffte stumm, dass ‚Flint‘ diese Abreibung reichte, um Travis nicht weiter zu erzürnen. Der Kerl hatte eine kurze Leitung, scheute nicht vor Gewalt, schien ihm aber gleichzeitig nicht unbedingt die hellste Kerze. Ein Rückschluss, den er vielleicht aus seiner Gewaltbereitschaft zog, der ihm aber durchaus Hoffnung brachte, vielleicht doch noch geschickt aus der Sache herauszukommen. Travis hatte sich wieder umgewandt, um sie weiter fort von den belebteren Straßen zu bringen. Einer seiner Handlanger brachte ‚Flint‘ wieder auf die Beine. Liam folgte, ohne Anstalten zu machen, sich groß wehren zu wollen. Auf seinem Gesicht war eher Überdruss zu erkennen als Angst oder Ehrfurcht.
„Lass laufen.“, flüsterte er ‚Flint‘ entgegen, kaum dass er sich auf gleicher Höhe mit ihm befand und versuchte, ihn mit einer leichten Bewegung der Hand auf die Spur aufmerksam zu machen, die er so hinterließ.
Auch, wenn Liam nur wenig Hoffnung hatte, dass Shanaya oder Josiah Interesse an einer Blutspur hatten, die nicht offensichtlich mit etwas zu tun hatte, was sie betraf. Trotzdem war es etwas, was er sich offenlassen wollte, je nachdem, wie die Angelegenheit hier verlaufen würde. Irgendwann würde man nach ihm suchen, sollte dieser Travis sie tatsächlich länger festhalten wollen. Und dann würde man auch auf eine Blutspur aufmerksam werden, die irgendwo durch verlassene Gassen führte. Trotzdem war Liam überrascht über seinen Gedankengang. Ganz so unbeteiligt waren die letzten Monate also wirklich nicht an ihm vorbeigegangen. Und während er Travis auf den Hinterkopf starrte, wurde ihm eigentlich zunehmend bewusst, dass er sich gar nicht darauf verlassen wollte, dass man ihn finden – oder überhaupt suchen – würde. Das hier würde er schon allein geregelt bekommen.
Travis führte sie tiefer in die engbebautere Gegend Silvestres. Irgendwann hielten sie vor einem Scheunentor, die Scheune an sich schmiegte sich eng an die Häuser daneben. Einer der Männer öffnete das Tor, Travis trat ein und die anderen beiden warteten, bis auch ‚Flint‘ und Liam gefolgt waren. Durch Fenster in den Dachgiebeln fiel Licht ins Innere, welches den Raum in ausreichendes, wenn auch nicht durchdringendes Licht hüllte, nachdem das Tor hinter ihnen wieder geschlossen war. Offensichtlich fungierte die Scheune als Lager. Allerlei Stoffe hingen über Ständern an den Seiten, im hinteren Bereich stand die ein oder andere Gerätschaft, wirkte aber, als sei sie seit längerem nicht mehr genutzt worden.
„Und jetzt? Willst du mir eine Abreibung verpassen, weil du gestern Abend nicht ungestört einer Frau auflauern konntest?“
Seine Züge waren ungewohnt hart, die Arme verschränkt. Man sah ihm an, dass er – zum einen – nur wirklich wenig Verständnis dafür hatte, so nachtragend zu sein, weil man bei einer Untat unterbrochen wurde. Dass Travis nur reden wollte, hatte er ohnehin von Anfang an bezweifelt. Travis war weiter in den Raum geschritten und lehnte sich nun mit einem selbstgefälligen Grinsen rücklinks an eines der hölzernen Gerätschaften. Liam war in der Mitte der Scheune stehen geblieben, die beiden anderen Männer hinter ihnen beim Tor.
„Oh, nur deshalb? Nein.“, offenbarte Travis mit ebenso verschränkten Armen, aber deutlich mehr Spaß an der Sache. „Aber wer sich einmischt und dann wie ein feiger Hund flieht – der hätte eine Abreibung durchaus verdient.“
Travis Flint wog den Kopf von der einen Seite zur anderen, während sein Blick mit einer gefährlichen Weiche zu seinem undankbaren Untermieter glitt. Der Anblick des blutverschmierten Gesichtes schien ihm wie Balsam auf der Seele zu sein.
„Mal ganz abgesehen von einem nichtsnutzigen, schmutzigen Amateur mit langen Fingern, der auch nur darüber nachdenkt, meine Tochter zu besteigen.“
{ Nathan, Flint und die zwei Leibwächtern in einem Lagerhaus }
Der gute Tipp seines neuen „Kumpels“ es laufen zu lassen, quittierte Nathan mit einem irritierten kurzen, humorlosen Auflachen. Er drückte sich den Handballen gegen die Nase und verstand zwar, dass er eine Spur hinterließ, aber wer, bitte, wer in dieser Götter verlassenen Stadt würde sich die Mühe machen, ihn und seine Haut zu retten? Hatte er etwas nicht mitbekommen? Wer war hier der verfluchte Lügner? Und warum war der Kerl die Ruhe selbst?!
„Ja klar. Laufen lassen.“, wiederholte Nathan und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er seinen Mitstreiter für mindestens grenzdebil hielt. Oder er war das genaue Gegenteil davon. Nathan kniff die Augen zusammen und versuchte, dass Pochen in seiner Nase zu ignorieren. So tat er ihm den Gefallen und nahm die Hand von der Nase, so dass die Spur zu dem Lagerhaus führte, in das sie gebracht wurden. Dort angekommen sorgten die Leibwächter dafür, dass eine Flucht durch das Tor, durch das sie gekommen waren, unmöglich wurde. Nathan überschlug seine Chancen, Flint zu überwältigen, um dann an ihm vorbei aus der Dachluke zu klettern, ohne dass die Schläger ihn vorher einholten und zu Brei schlugen. Sie standen, vorsichtig ausgedrückt, überhaupt nicht gut. Der Typ neben ihm war immer noch so entspannt, als gelte es, mit seinen Freunden einen feinen Sonntagnachmittag zu verbringen. Was machte den Piraten so sicher? Travis würde sie beide wahrscheinlich in diesem Kontor am höchsten Balken aufknüpfen und fertig. Vielleicht vorher noch das Fell über die Ohren ziehen oder sonstige Nettigkeiten. Für eine simple Abreibung hätte die Gasse gereicht. Für ein simples Abstechen allerdings auch. Während er so darüber nachdachte, sagte Travis etwas, dass ihn aufhorchen ließ:
„Mal ganz abgesehen von einem nichtsnutzigen, schmutzigen Amateur mit langen Fingern, der auch nur darüber nachdenkt, meine Tochter zu besteigen.“
Nathan sah zu seinem Leidensgenossen und schüttelte angewidert den Kopf, bis er verstand, dass er selbst gemeint war. Er stieß entrüstet die Luft aus und machte eine entschiedene Geste. “Hey Moment mal, Moment mal!“ Das war heute bereits das zweite Mal, dass man ihn derart beleidigte. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. “Ich habe noch NIE in meinem Leben, irgendwen oder irgendwas bestiegen!“ In seiner Wut machte er einen Schritt auf Travis Flint zu, dieser gab seinem Leibwächter einen kurzen, fast nachlässigen Wink mit dem Kopf und einen Lidschlag später blutete Nates Nase erneut.
„Das tut WEH, verdammt!“, beschwerte sich der Dieb und hob abwehrend die rechte Hand, als der Schrank dem Hieb Nachdruck verleihen wollte. „Schon gut, schon gut, ich halte ja schon meine Klappe!“, brummte Nathan verstimmt und murmelte etwas halblaut vor sich hin, dass er sich unverstanden fühlte und dass Travis‘ Worte einfach nur ungerecht waren. Immerhin zog sich der Gorilla zurück zu seiner Position am Tor.
Besteigen? Ha! Bitte. Etwas Heiliges wie die Liebe bezeichnete man nicht mit so unflätigen Worten. Ganz davon abgesehen, dass ER nicht derjenige von allen Anwesenden hier war, der das Attribut „schmutzig“ verdiente! Eine Innere Stimme sagte ihm jedoch, dass das nicht der Punkt war, den Flint so aufgebracht hatte, verständlicherweise. Lange Finger? Na gut, darauf konnte er sich einlassen. Vielleicht sogar auf den Nichtsnutz.
Aber was sollte das Ganze? Warum war der andere hier? Und warum machte Flint nicht kurzen Prozess, wie er es eigentlich erwartet hätte? Nicht verdient, aber erwartet.
Weil er aber nun das zweifelhafte Glück hatte, dass das Blut nicht mehr in Fontänen aus seinem Nasenloch schoss, sondern nur spärliche Tröpfchen auf den Holzbohlen landeten. Dieses hässliche Grinsen vor ihm hätte er gerade sehr gerne mit einem gut gezielten Fausthieb aus Flints zahnlückige Visage gewischt, leider waren sie hilflos in der Unterzahl, und irgendetwas sagte Nate, dass die Schläger nur darauf warteten, dass sie ihm einen Grund lieferten. Außerdem, wer sagte denn, dass Lockenköpfchen auf seiner Seite war? Warum war er Nathan ganz offensichtlich gefolgt? War er jemand von Flints Männern und hatte einen Fehler begangen?
Schließlich hatte er es sich mit Flint auch irgendwie verscherzt, hatte sich irgendwie in Ungnade gegeben, indem er sich eingemischt hatte?
Flint rieb sich geschäftsmäßig die Hände und begann, vor den beiden Männern, auf und ab zu laufen. „Es ist doch recht und billig, dass ihr beide, die ihr mir die letzten beide Tage verdorben habt, jetzt dafür sorgen werdet, dass er doch noch in Freude für mich endet!“, erklärte er kryptisch und Nathan rieb sich mit dem Ärmel das Blut von der Nase, jedenfalls verteilte er es großzügig und ohne es zu merken, quer durchs Gesicht. Aber das war ja jetzt auch sein kleinstes Problem. Skeptisch hob er eine Augenbraue.
[Liam, Flint und die zwei Leibwächtern in einem Lagerhaus]
Als Josiah am Straßenrand Shanayas Aufmerksamkeit einforderte und mit einem Nicken auf die Kinder deutete, die sich auf der anderen Seite die Zeit vertrödelten, passierten gleich mehrere Dinge auf einmal: Hinter der nächsten Biegung tauchte ein Karren auf, gezogen von einem drahtigen, braunen Maultier, das seine besten Tage schon hinter sich hatte. Irgendwo über ihren Köpfen knallte jemand mit viel Schwung die Fensterläden gegen die Hauswand und eine Gruppe Tauben stob laut protestierend gen Himmel auf. Der Junge, der neben der Auslage eines Händlers Kisten stapelte, fuhr zusammen und ließ eine davon fallen, sodass sie unmittelbar vor den Hufen des Maultiers laut polternd auf das Kopfsteinpflaster krachte und zerbarst.
Der Vierbeiner scheute, brach zur Seite aus, riss Karren und Kutscher mit sich und rammte die junge Frau, die sich dort auf ihre Krücken stützte, mit einer massigen Schulter, bevor es panisch drei schnelle Galoppsprünge nach vorn machte und zu fliehen versuchte.
Der Zusammenstoß schubste Shanaya immerhin außer Reichweite des Karrens, sodass die Räder sie nicht erwischten. Aber sie hatte keine Chance, gegen die Gewalt des massigen Leibes ihr Gleichgewicht zu halten und stürzte samt Gehstock mit einer ungünstigen Drehung zu Boden. Ein scharfer Schmerz schoss durch ihr verwundetes Bein und innerhalb von Augenblicken sog sich der Stoff ihrer Hose mit einer bedenklichen Menge Blut voll. Die Naht war wieder aufgeplatzt.
Irgendwo schrie jemand erschrocken auf. Eine Frau. Und plötzlich kam Bewegung in die Umstehenden auf der Straße. Der Mann hinter dem Stand, vor dem die Kiste zerbrochen war, kam als erstes auf sie zu. Die Züge von Besorgnis verzerrt, fiel er neben ihr auf die Knie und musterte sie von Kopf bis Fuß.
„Junge Frau! Junge Frau, geht es Ihnen gut? Es tut mir schrecklich Leid! Dieser Nichtsnutz, er… Oh je, Sie bluten! Wir brauchen einen Medicus!“ Prompt warf er einen Blick über die Schulter, suchte nach seinem ungeschickten Lehrling und pflaumte ihn an: „Mach schon, Junge! Lauf und hol einen Medicus!“
Offensichtlich hielt sein Leidensgenosse seinen ‚Ratschlag‘ für einen böswilligen Scherz. Liam konnte es ihm in diesem Augenblick nicht einmal verübeln. Er wusste, dass ein gebrochenes Nasenbein und die damit verbundenen Schmerzen nicht nur Auswirkung auf das Äußere sondern auch auf den Humor hatten. Groß Zeit und Gelegenheit, um zu erklären, worauf er hinauswollte, blieb ihnen allerdings nicht. Demnach musste sich ‚Flint‘ entweder mit dem Ernst zufrieden geben, der in einem flüchtigen Seitenblick zu lesen war, oder aber einfach weiterhin mit der Annahme leben, es mit einem einfältigen Dummkopf zu tun zu haben, der sich einfach an dem Blut erfreute, das seinem Gegenüber gerade aus der Nase sprudelte.
Liam jedenfalls hatte gerade andere Probleme, als dass er sich groß daran gestört hätte, für einen Idioten gehalten zu werden. Auch Travis hatte nicht gerade das beste Bild von ihm, demnach war ‚Flint‘ wohl in bester Gesellschaft. Während erster mehr sporadisch Antworten an sie brachte, nutzte der Lockenkopf die Zeit, um sich einen groben Überblick über die Scheune zu verschaffen. Seine Lippen verzogen sich allerdings ohne Begeisterung, seine Meinung behielt er für sich. Es war ihm noch immer unbegreiflich, was Travis mit Skadi zu tun hatte. An eine zufällige Begegnung glaubte er längst nicht mehr. Die Rachegelüste, die der breitschultrige Mann empfand, mussten ihren Ursprung viel tiefer haben als ihre bloße Gegenwehr am letzten Abend. Was auch immer es war – er war gar nicht erpicht darauf, es zu erfahren. Zum einen, weil Travis mit Sicherheit nicht zu einem freundschaftlichen Plausch aufgelegt war, um das Missverständnis aus der Welt zu räumen, zum anderen, weil er sich vorgenommen hatte, sich nicht mehr einzumischen.
Mit halbem Ohr hatte er den weiteren Worten Travis‘ gelauscht, während er im Schatten hinter dem Mann eine weitere Tür ausgemacht hatte. Eine, die ihnen allerdings nicht viel bringen würde, selbst wenn sie sie erreichen sollten. Sie war verstellt mit den massiven, hölzernen Geräten. Ansonsten waren die Wände verhängt mit allerlei Stoffen. Eine Holzleiter führte an einer Stelle hinauf auf eine weitere Ebene im Dachgiebel, auf der weitere Stoffe über Ständern hängen mussten. Letztlich fand sich sein Blick wieder auf Travis, bis er sich des angewiderten Ausdrucks neben ihm bewusstwurde und den Seitenblick mit zusammengezogenen Augenbrauen erwiderte. Just in diesem Moment schien auch ‚Flint‘ sich darüber klarzuwerden, dass sich lediglich die erste Aussage auf ihn bezogen hatte. Alles andere schien ihm aber auch nur aus seinem eigenen Blickwinkel neu zu sein. Liam ahnte, was geschehen würde, noch bevor ‚Flint‘ einen Schritt nach vorne trat, um für seine Selbstgerechtigkeit einzustehen.
„Das ist -“, begann er und machte einen Schritt auf den Blondschof zu, doch dieser hatte sich bereits auf Travis eingeschossen und begonnen, dagegenzuwettern.
keine gute Idee. In weiser Voraussicht kniff er bereits die Augen zusammen, bevor das plumpe Geräusch von Blut auf den Dielen an seine Ohren drang. Armer Tölpel. Liam war zu empathisch, als dass er keinen Phantomschmerz empfunden hätte. Seine Hand kribbelte zunehmend unangenehmer, sodass er die Finger kurzerhand in die Leinen seines Hemdes grub, während sein Magen unbehaglich unter dem gestrigen Fausthieb zog. Sein Mund war unangenehm trocken, doch noch immer hielt sein innerlicher Trotz gegenüber seiner Pechsträhne und seiner momentanen Situation das Gefühl von Furcht von ihm fern. Sowieso – er schätzte Travis zwar nicht als die hellste Kerze im Raum ein, aber er war allemal einflussreich und schlau genug, um sich die Finger nicht selbst schmutzig zu machen. Vor allem nicht in seinen eigenen Räumlichkeiten. Dafür hatte er andere Männer. Männer, die subtiler vorgehen würden, als Leute von der Straße zu klauben. Vor einer einfachen Schulhofschlägerei würde er nicht den Kopf einziehen. Sein einziger Wunsch wäre gewesen, dass man es endlich hinter sie brachte, statt großspurig und kryptisch vor sich hinzureden. Er seufzte lautlos aber angespannt, während er Travis dabei beobachtete, wie er wie ein grobschlächtiger, selbstgefälliger Richter vor ihnen auf und ab schritt. Liam wusste nicht recht, ob er tatsächlich überlegte, wie er mit ihnen verfahren würde oder sie nur einfach gerne auf die sprichwörtliche Folter spannte, bevor sie in die Tat umsetzte. Er entgegnete nichts, blinzelte nur abwartend und mit flach atmend. Auch die Frage danach, ob er sie für Affen hielt, die nun munter für ihn tanzen würden, behielt er lieber für sich.
„Hmmmm.“, erklang es nachdenklich vor ihnen, während Flint eine weitere Wendung machte und sich schließlich wieder voll vor ihnen aufbaute. „Ihr seid doch sicherlich so gnädig, hier kurz auf mich zu warten.“ In seiner Stimme schwang deutlich mit, dass sie alles andere bereuen würden. „Ich habe noch die ein oder andere Sache zu klären. Dann werde ich mich um euch Bastarde kümmern.“ Sein Blick lag dabei ausschließlich auf Nathan, was Liam wiederum davon überzeugte, dass er nur unglücklicher Beifang war. Doch auch ihm galt ein letzter, warnender Blick, ehe er zurück auf das Tor zuschritt. Einer der Männer öffnete es, sie folgten ihm. Nach wenigen Momenten verstummten die Stimmen draußen, schwere Schritte entfernten sich auf dem Kopfsteinpflaster. Einer der Leibwächter hustete draußen vor dem Tor. Sie waren noch da und würden sie vermutlich wirklich bereuen lassen, einen Fluchtversuch zu starten.
„Hier.“, sagte Liam schließlich und verdrängte die Stille aus der Lagerhalle, in der man sie allein zurückgelassen hatte. Er hielt ‚Flint‘ ein Stofflaken entgegen, welches er kurzerhand von einem der Ständer gepflückt hatte. „Vermutlich das teuerste Taschentuch, das du in deinem Leben je verwenden wirst. Solltest dich nur nicht damit erwischen lassen.“ Er zuckte mit der Schulter, lächelte dann aber. „Aber so siehst du fast noch bedrohlicher aus als dieser Gorilla.“
Mit der Hand machte er eine Geste vor seinem Gesicht, um zu präzisieren, was er meinte. Dann wandte er sich um und schritt auf die Wand links von ‚Flint‘ zu, um nachzusehen, ob sich hinter den Tüchern nicht doch noch eine Tür versteckte.
„Und du hast ihn beklaut und dich mit seiner Tochter eingelassen? Nicht unbedingt ein Schwiegervater, wie man ihn sich wünscht.“, fuhr er fort, um der Stille gar keine weitere Chance zu geben.
{ Nathan, ohne Flint und die zwei Leibwächtern in einem Lagerhaus }
Nathans Nase hatte für einen Tag wirklich genug eingesteckt. Nathans selbst war auch mehr als bedient, aber er ahnte, dass Flint noch lange nicht genug Blut gesehen hatte. Er kannte Travis noch nicht lange genug, aber seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass ihm der unangenehme Teil seiner kleinen Eskapade noch bevorstand. Der unheilschwangere Blick, den Flint ihm zuwarf, verhieß jedenfalls nichts Gutes.
„Hmmmm. Ihr seid doch sicherlich so gnädig, hier kurz auf mich zu warten.“ Nathan erwiderte den Blick ruhig, aber im Gegensatz dazu zog sich sein Magen zusammen. In was hatte er sich hier wieder hineingeritten? Dieses Mal war er jedoch klug genug, nicht darauf zu antworten. „Ich habe noch die ein oder andere Sache zu klären. Dann werde ich mich um euch Bastarde kümmern.“
Mit diesen wenig erbaulichen Worten verließ er das Lagerhaus und mit ihm seine Lakaien. Was zur Hölle wurde hier gespielt? Was wollte er klären? Wollte er Gwenn auf den Plan rufen? Oder gab es eine Todesart, die er ersonnen hatte, die Vorbereitung brauchte?
„Hier.“, erklang es plötzlich neben ihm, als sein Leidensgenosse ihm eines der Laken aus den Stoffbeständen reichte. „Vermutlich das teuerste Taschentuch, das du in deinem Leben je verwenden wirst. Solltest dich nur nicht damit erwischen lassen. Aber so siehst du fast noch bedrohlicher aus als dieser Gorilla.“Auf Nates fragenden Blick deutete der andere auf sein Gesicht, und tatsächlich - als er den Stofffetzen mit einem dankbaren Nicken annahm und damit über sein Gesicht fuhr - färbte es sich kaminrot.
Der Pirat suchte die Wand hinter Nathan ab. Noch immer schien er ihm erschreckend abgebrüht, so als fürchtete er nicht wie Nathan in der nächsten halben Stunde verbrannt, gevierteilt, verfüttert, vergiftet, erschossen, gehäutet, ertränkt, aufgeknüpft oder was auch immer zu werden. „Und du hast ihn beklaut und dich mit seiner Tochter eingelassen? Nicht unbedingt ein Schwiegervater, wie man ihn sich wünscht.“
„Ja, na ja… eingelassen… ist womöglich das falsche Wort…“, relativierte Nathan übellaunig. Er ging zu einem Wasserfass, das in einer Ecke offensichtlich dazu benutzt worden war, um Segeltuch zu reinigen, tauchte den teuren, beschmutzten Fetzen hinein und entfernte notdürftig und mit schmerzerfülltem Gesicht vorsichtig das Blut. Hoffentlich blieb seine Nase nicht krumm. Aber wenn er sie so betastete, schien sie zumindest nicht gebrochen zu sein. „Ich habe jedenfalls nichts getan, was sie nicht auch aus tiefster Seele wollte. Zum Heiraten bin ich nicht so ganz der Richtige. Das Beklauen kam dann irgendwie… so … nebenbei.“ Er entfernte in dem brackigen Wasser das Blut von seinen Händen und wischte sich die Hände an der Hose trocken.
Er seufzte tief. Nate war im Grunde kein Freund von schnellen Allianzen. Doch in dieser Situation, da er sich wie die Ratte in der Falle fühlte, war der Lockenkopf seine vielleicht einzige Chance, nur mit einer blutigen Nase davon zu kommen. Der junge Bursche vor ihm schien zwar keinen rettenden Ausweg zu sehen, doch er schien zuversichtlich genug, hier irgendwie wieder herauszukommen. Oder er wusste, was Flint vorhatte. Jedenfalls schienen die beiden sich zu kennen. Wie dem auch sei, wenn er eine Chance haben wollte, dann bekam er sie am ehesten mit Blondie.
Also entschloss er sich dieses Mal - was völlig gegen seine Natur war - für die Wahrheit.
„Mein Name ist Nathan“, eröffnete er seinem Gegenüber ehrlich. „… und das hier…“ er wies auf sein blutbesudeltes, teures Hemd und die ebensolche Hose. „…ist mehr Schein als Sein. Mein Vater ist natürlich kein Stoffhändler, die hat mir Flint verpasst, als er mich aus dem Meer zog.“ Mit zerknirschter Miene breitete er erklärend die Arme aus. „Ich hatte gehofft, ihr Piraten würdet eher ein gut situiertes, harmloses Händlersöhnchen mitnehmen, als einen gewöhnlichen Tagedieb.“ Er machte eine Pause, in der er zum Tor ging und lauschte. Leise waren dort die Stimmen der Leibwächter zu hören. Sanft drückte er gegen einen Flügel des Tores und stieß sofort auf einen Widerstand. Jemand hatte offensichtlich einen Riegel vor das Tor geschoben. Das war zu erwarten gewesen. Er drehte sich zu dem Anderen um. „Warum hast du mich verfolgt? Das hast du doch, oder? Du warst doch nicht zufällig am gleichen Ort, als Flint mich schnappte? Und warum bist du hier?“
Ob der Zinken nun gebrochen war oder nicht – es machte ohnehin keinen Unterschied, wenn man mal davon absah, dass die eine Option vermutlich länger wehtun würde als die andere. In erster Linie beruhigte es allerdings Liams Gewissen, dass ‚Flint‘ sich selbst in diese Situation manövriert hatte. Ob all das ein Grund war, ihm einen – oder mehrere – Schläge ins Gesicht zu verpassen, blieb dabei mal dahingestellt. Diesbezüglich gingen Travis‘ und seine Meinung nämlich offensichtlich weit auseinander. Immerhin schien aber auch der Blondschopf einzusehen, dass sie nun gemeinsam im Schlamassel saßen und es unnötig war, sich auch noch gegenseitig zu bekriegen. So lange jedenfalls, bis Travis zurückkam und sie sich höchstwahrscheinlich wieder jeder selbst der nächste waren. Liam verzog die Lippen mit deutlichem Mitgefühl, als sein Gegenüber ihm das Laken abnahm, ehe er sich abwandte, um sich umzusehen. Seine Fragerei entstand weniger aus dem Nutzen, den er daraus ziehen konnte, als aus reinem Interesse. Liam war vieles, aber bezüglich des Eigennutzes war bei ihm bereits Hopfen und Malz verloren. Dafür war er zum einen viel zu genügsam und zum anderen viel zu solidarisch. In diesem Augenblick ignorierte er all die Stimmen, die er nur allzu deutlich in seinem Kopf hören konnte. Er würde nicht versuchen, sich den Weg einfach auf gut Glück freizukämpfen. Er glaubte noch immer daran, dass es eine Möglichkeit gab, das Ganze mit Geschick anzugehen und so mit vielleicht nur einem blauen Auge davonzukommen – oder eben einer angeknacksten Nase in ‚Flints‘ Fall.
Er warf einen flüchtigen Blick über die Schulter in die Richtung des Jüngeren als Zeichen, dass er ihm zuhörte. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert, doch der Ausdruck auf seinen Zügen wich zügig wieder dem Ernst und der Anspannung in Anbetracht ihrer Situation. Ein bisschen sprach es ja für den Blondschopf, dass er betonte, der Tochter gegenüber nicht gegen ihren Willen gehandelt zu haben. Leider änderte das nichts an der Tatsache, wenn man die Lage aus der Sicht des aufgebrachten, cholerischen Vaters sah. Alles andere bestätigte ihn zumindest darin, dass er Recht gehabt hatte; dass irgendetwas an diesem ‚Flint‘ nicht gestimmt hatte und er wirklich gleich des Taschendiebes, der den hartnäckigsten Spürhund der Welt auf seinen Fersen hatte, nicht zu den rechtschaffenden Bürgern dieser Stadt gehörte.
„Die Reichen und Mächtigen sehen es nicht gerne, wenn man ihren Familiennamen mit dem Raub der Jungfräulichkeit ihrer Töchter befleckt. Besonders nicht, wenn man nicht einmal Ambitionen hat. Und dir dann auch noch das Materielle unter den Nagel zu reißen. Hui.“
Es hätte belehrend klingen könnten, hätte Liam mit derlei Dingen wirklich Probleme gehabt. Er war kein großer Freund von all den gesellschaftlichen Verpflichtungen, die Name, Macht und Geld mit sich brachten – besonders nicht, wenn es darum ging, die Verbindungen des Nachwuchses zu kontrollieren und möglichst wirtschaftlich zu gestalten. Dementsprechend belustigt klang er auch, während er ‚Flint‘ beiläufig und mit einem Hauch von Unverständnis eröffnete, welches Problem Travis wohl damit gehabt hatte. Und er betonte absichtlich seine Vermutung, dass den breitschultrigen Tuchhändler der Sachdiebstahl mehr getroffen hatte als das Befinden seiner Tochter. So war das doch immer bei den Reichen und Mächtigen.
Liam zog stellenweise die Laken zur Seite, doch hinter ihnen befand sich nicht mehr als die hölzerne Wand zu den Nebengebäuden. Kurz dachte er darüber nach, sie einfach mit Hilfe eines der Gerätschaften einzureißen und durch das Nebenhaus zu entkommen, aber er war sich nicht sicher, wie viel Einfluss dieser Travis hatte. Und wie viel Aufmerksamkeit das zwangsläufig auf ihn ziehen würde. Nachdenklich legte sich seine Stirn in Falten, ehe er sich doch umwenden wollte, um zu erfragen, wie viel der Blondschopf über diesen Travis wusste, doch dieser kam ihm zuvor. Als ihm die Tiefe dessen, was der Jüngere ihm gerade offenbarte, bewusst wurde, drehte er sich dennoch um und musterte seine blutbefleckte Kleidung.
„Liam.“, entgegnete er schließlich. „Dann ist Travis Flint dieser Kerl? Stoffhändler?“
Er erwischte sich erst einige Herzschläge später dabei, dass er abermals begonnen hatte, darüber zu sinnieren, was getan hatte, um einen Stoffhändler zu verärgern. Genervt von sich selbst stieß er scharf die Luft aus und wandte sich nun den Gerätschaften zu, die am anderen Ende des Raumes die Tür versperrten.
„Auf Schiffen sieht man lieber Männer, die anpacken können als gut situierte Händlersöhne. Aber ich denke, das ist dir mittlerweile klargeworden.“
Mit einem schwachen Lächeln dachte er an Shanayas Reaktion zurück, als er ihr angeboten hatte, den Taschendieb suchen zu lassen. Wäre es nur um seine Unterstützung gegangen, hätte die Sache vielleicht schon anders ausgesehen. Zusätzlich lag ihm ein Ich bin kein Pirat auf der Zunge, doch er musste sich zunehmend daran gewöhnen, dass er für die Gesellschaft eben das war. Halt kein Guter, wenn man sein eigenes Bild damit vermischte.
„Ich hab‘ gehofft, dass du mich zu unserem Taschendieb führst.“, antwortete Liam offen hinaus auf seine Frage. „Der wäre mir im Übrigen weitaus lieber gewesen als dieser Flint. Und hier bin ich vermutlich, weil mir gestern nicht gepasst hat, dass er eine Freundin von mir auf offener Straße belästigt. Und das wiederum hat ihm nicht gepasst.“
Liam seufzte, als sich der Versuch, eine der Gerätschaften zu verschieben, als eher mühselig und vor allem laut herausstellte. Selbst zu zweit würden sie es nicht schaffen, das Holz zur Seite zu ziehen und durch die Tür zu verschwinden, bis die beiden Leibeigenen sie erwischt hatten.
„Du sagst, er hätte dich aus dem Meer gefischt und dir die Kleider gegeben. Also scheint irgendwo hinter dieser zahnlückigen Visage doch ein Funken von Mitgefühl zu stecken. Was weißt du sonst noch über ihn?“
{ Nathan, ohne Flint und die zwei Leibwächtern in einem Lagerhaus }