Inselwelten

Normale Version: The Moment It Takes
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Er hatte nicht wirklich Zeit, auf den Opern-Kommentar zu antworten. Es war gerade auch wirklich nicht wichtig, selbst wenn diese Diskussion sie beide sonst womöglich nächtelang wachgehalten hätte. Es gab Momente für Musik, und dann gab es Momente, in denen man seine Geige in den Händen eines Irren ließ und um sein Leben rannte. Auch wenn einem das Herz dabei blutete.

Er konnte es kaum fassen, dass er erstens Rhys‘ Plan richtig verstanden hatte und dass dieser zweitens so gut geklappt hatte. Es grenzte an ein Wunder. Oder an… göttliche Fügung, vielleicht. Ein Geburtstagsgeschenk der Göttin persönlich.

Was es auch war, Elian nahm es und seine Beine in die Hand. Sie preschten den Gang hinunter, gefolgt vom Starren einer Kameraden, die wegen des Tumults jetzt die Köpfe aus den Zimmern steckten. Das hier ist das Albernste, das ich in Jahren getan habe. Warum rennen wir? Als ob es seinen Onkel interessiert, wo wir uns verstecken… Die Stadtwache sucht uns entweder bis sie uns haben, wenn es wirklich so weit kommt, oder wir bekommen Arrest sobald wir hierher zurück kommen. Und das müssen wir. Desertation ist ein Fehler, den ich sicher niemals begehe. Es gibt wenig dümmere Arten, zu sterben.

Elian stöhnte über den Vorschlag, wohin sie sich wenden würden, aber ihm wirklich nichts Besseres ein. Alle Orte, die mit vielen Leuten bevölkert waren, gaben Fred einen Heimvorteil – abgesehen von dem einen Ort, an dem Elian so verdammt viele Steine im Brett hatte (mindestens einen pro Baby), dass sie dort für ihn lügen würden, um seine Dienste nicht zu verlieren. Er hasste es, die Ladies in diese Situation zu bringen (Angus hatte es vermutlich irgendwie verdient, aber sicher war er sich da auch nicht ganz). Andererseits hatte er sie aus deutlich tödlicheren Situationen rausgeholt. Und wozu hatte man bitte Freunde, wenn man sie im Zweifelsfall nicht um Hilfe bitten konnte?

„Genau der Ort, an dem ich heute feiern wollte.“ Er sagte es sarkastisch, aber er überholte auch Rhys und schlug den Weg zur Laterne ein. Ein letzter Schulterblick, ehe sie in das Gassengewirr eintauchten, versicherte ihm, dass Fred noch nicht weit genug aufgeholt hatte, um zu sehen, wohin sie abgebogen waren.

Taranis Ives

„Ich hatte vorgehabt, dich morgen zu einer Poesielesung mitzunehmen!“, brüllte er, während er versuchte, mit zu halten. „Es ist verdammt unfair, dass du so viel fitter bist, als ich, Herr Doktor!“ Wirklich, es war nicht gerecht. Er verbrachte seine Tage mit Offizierstraining, nicht mit Arztspielchen! Gut, in Ordnung…mit ein paar Arztspielchen. Und Trinken. Und Kartenspiel. Und Hurerei, aber das war am Ende vom Tag auch sehr anstrengend und gut für verschiedenste Muskelgruppen.
Die Laterne war zum Glück nicht allzu weit von der Kaserne entfernt. Angus wusste schon, wo er sich sinnvollerweise niederließ mit einem solchen Geschäft. „LINKS!“ Er schuppste Elian in eine Seitengasse, die in einer Sackgasse endete. „Da vorne über die Kisten und über die Mauer!“
Sie brauchten die Abkürzung. Fred brüllte nicht weit hinter ihnen.
 
Die Laterne tauchte vor ihnen auf und Tanis jagte an Elian vorbei, zog an einem Ärmel und um das Gebäude herum, durch eine der Hintertüren und in die Küche. Eine ältere Frau saß dort und starrte sie beide einen Moment lang aus großen Augen an, schnalzte dann aber mit der Zunge, scheuchte die Katze von ihrem Schoß hinunter und setzte Tee auf.
Sie machte keine Anstalten, Elian hinaus zu werfen oder auch nur darauf zu warten, dass erklärt wurde, wer er war. Tanis schluckte. Also stimmte es, dass Elian…oft hier war. Er hatte damit nicht unbedingt gerechnet. Der erste Besucht hatte nicht….aber auf der anderen Seite war Elian zu diesem Zeitpunkt schon lange geblieben und…nun….Druckabbau. Tanis kannte das, es war nicht…. Es war nur so FALSCH, sich das mit Elian vorzustellen. Elian an diesem Ort zu wissen.
 
„Danke, Perl.“
Sie schmatzte, keinen einzigen Zahn mehr im Mund und wandte sich wieder ihrem Strickzeug zu, schlurfte nach kurzer Zeit hinaus.
Tanis starrte in seinen Tee. „Sag nie, ich würde keine Aufregung in dein Leben bringen.“
 
 
 







Poesievorlesung… wäre diesem Chaos auf jeden Fall vorzuziehen. Ein gepflegtes Fläschchen Wein und gute Konversation hinterher… vielleicht ein Spaziergang… KONZENTRIER DICH! Fast wäre er mit einem Handkarren zusammengestoßen, der vor ihm aus einer Gasse bog, und kam nur im letzten Moment schlitternd zum Stehen, schlug einen Haken und eilte unter dem Fluchen des Bauern weiter – nicht mal Zeit für eine Entschuldigung, denn wenn er das Brüllen dort hinten richtig deutete, hatte Fred angefangen, seine langen Beine zu benutzen und holte stetig auf.

„Ich – hab nur – längere Beine –“ Er keuchte inzwischen und spürte deutlich, wie ihm das Hemd unter der Uniformjacke am Oberkörper klebte. Früher war ich wirklich besser im Weglaufen. Was ist passiert? Ach ja. Langweiliger geworden und den ganzen Tag über Büchern verbracht. Kinder sind halt doch schlauer als Erwachsene.

Rhys holte hinter ihm auf, und schubste Elian unvermittelt in eine kleine Seitengasse, als sie die Laterne schon im Blick hatten. Elian taumelte gegen die nächste Hauswand, aber er fing sich und rannte weiter, nur einen halben Schritt vor Rhys, der ihm unterdessen eine Route zurief. Der Arzt befolgte die Anweisungen, in der Eile im blinden Vertrauen, sprang von Kiste zu Kiste, drückte sich von der Mauer ab und schwang seine Beine hinüber, und landete auf der anderen Seite in einer Gasse, die ebenfalls direkt an das Bordell angrenzte. Huh, da führt also dieser Weg herum… So oft er hier war, so selten hatte er sich tatsächlich das umliegende Gässchengewirr angesehen. Es war einfach nie wichtig gewesen, und die Gegend hier war sicherlich keine, in der er übermäßig viel Zeit verbringen wollte.

„Hoffen wir dass Freds geistige Stadtkarte genauso mangelhaft ist wie meine…“ Rhys übernahm wieder die Führung und brachte Elian durch eine Tür, die er wirklich noch nie benutzt hatte, in die Küche. Hier war er bisher nur einmal gewesen, weil er ein besonderes Messer gebraucht hatte – und hatte sich damals prompt einen Klaps von dem alten Besen eingefangen, der sie jetzt aus großen Augen anstarrte, dann aber überraschend ruhig blieb. „Uhm… wir brauchen nur einen Moment, um Atem zu holen…“ Elian setzte zu einer Erklärung an, an der aber offenbar kein Interesse bestand. Er erinnerte sich an den großen hölzernen Kochlöffel, den die Alte irgendwo hier aufbewahrte, und sah ihr lieber schweigend dabei zu, wie sie Tee aufsetzte.

„Sind wir sicher, dass Fred uns nicht hat abbiegen sehen?“ Er zumindest hatte in der Panik nicht zurückgeschaut. Was, wenn der Andere hier jeden Moment reinstürmen würde? „Vielleicht sollten wir uns irgendwo anders verkriechen… tiefer im Gebäude.“

Sein Vorschlag verklang, wie es schien, ungehört. Stattdessen landeten sie irgendwie am Küchentisch, jeder eine Tasse Tee in den Händen, und Perl – wie Rhys sie genannt hatte – verzog sich.

„Mein Leben war gestern definitiv langweiliger.“ Elian suchte mit den Augen nach einer Zuckerdose, wagte es dann, sich zwei Würfel zu stehlen und ließ sie in seine Tasse fallen, oder Hoffnung, dass sie sich aufgelöst haben würden, ehe Perl wiederkam und ihre Gastfreundschaft bereute.
„Du willst nicht darüber reden, also werde ich nicht fragen, aber… dir ist klar, dass wir ihm nicht auf ewig wegrennen können. Vor allem nicht, wenn ihr beide weiterhin auf demselben Schiff dienen müsst.“

Taranis Ives

„Wie eine sehr muskulöse Gazelle.“, stimmte Tanis zu, bereits außer Atem. Monate auf See waren nicht gut für die Ausdauer bei einem sehr schnellen Dauerlauf durch die Stadt. Er hatte das Gefühl, als würde ihm gerade alles aus der Brust heraus platzen. Seine Lunge brannte. Wenigstens konnte er sich auf Elians Hinterseite konzentrieren, während der Arzt vorne weg lief und – nein! Nein, nein, nein, nein, NEIN!
Wirklich, es war fast, als würde alles ein wenig schlimmer werden. Dabei konnte er nun wirklich nicht sagen, dass er sich die letzten Monate über zurück gehalten hätte. Nein, es gab KEINEN guten Grund hierfür.
Er verzog das Gesicht, zwang sich dazu, sich auf die Schrei zu konzentrieren, auf die Anstrengung, auf alles andere als Elian. „Die wenigsten Leute kundschaften alle Gassen aus.“ Tanis allerdings kannte alle Fluchtwege in der Stadt, vor allen Dingen diejenigen, die ihn schnell in die Laterne bringen würden und er lief sie regelmäßig ab. Es war besser, vorbereitet zu sein, sollte er irgendwann einmal auffliegen.
 
Die Laterne selbst war Sicherheit. Fred hatte sie zumindest nicht durch die Tür laufen sehen, also hatten sie mit etwas Glück alle Zeit der Welt. Wenn er auf die Idee kam, sie in der Laterne zu suchen – was nicht unwahrscheinlich war – würde er wohl nicht in der Küche anfangen. Zumindest hoffte Tanis das. Der Mann war noch nie hier gewesen. In aller Regel blieben Besucher im Empfangsraum oder den Zimmern. Niemand hatte ein großes Bedürfnis bei der ehemaligen Puffmutter herein zu schneien.
Er nahm sich ebenfalls Zucker und lehnte sich zurück, rührte nachdenklich in der Tasse. Seine Hand zitterte und der Löffel klackerte gegen die Tasse. Er stellte die Tasse ab und ballte die Hand zur Faust.
 
Nein. Nein, er wollte nicht darüber reden. Wobei es albern war, es war wirklich albern. Vermutlich wollte Fred mehr von ihm, als er gewillt war mit einem Mann zu tun, aber das sollte ihn nicht so mitnehmen. Es war albern und erbärmlich.
„Ich weiß.“ Er massierte sich die Schläfen. „Und vorher darf ich mich verstecken. Vermutlich wird er auch noch versuchen dich…oh Göttin…“ Er würde aufhören. Er würde sich nicht mehr mit anderen Matrosen vergnügen auf See. Wenn sie hier durchkamen, würde er auf See selbst Hand anlegen und das war es. „Du bist nicht durch und durch gegen Erpressung oder?“
 







Eine GAZELLE? Elian spürte die Hitze auf seinem Gesicht und war sich nicht sicher, ob sie nur vom schnellen Laufen kam. Wenn ich nicht sicher wüsste dass er nicht zu Schmeicheleien neigt…

Seine Füße landeten hart auf dem Kies, nachdem er über die Mauer gesprungen war, und wenig später stand Rhys neben ihm, in etwa so verschwitzt und außer Atem wie er sich fühlte. „Wir haben jedenfalls verdammtes Glück, dass du nicht die ‚meisten Leute‘ bist.“

Für Elian waren sehr viele widerstreitende Gefühle mit dem Bordell verbunden. Immer wenn er nur die Außenfassade sah, stach es durch seine Leibesmitte wie von tausend Nadeln und er hätte sehr viel dafür gegeben, wenn er der Laterne genauso leicht die Nase hätte brechen können wie Fred. Sicher, er hätte sie Angus brechen können – aber einem Mann für die Fehltritte eines anderen, die streng genommen keine waren, etwas zu brechen, war weder gerecht noch angebracht. Außerdem, was konnte Angus – oder Rhys selbst – dafür, dass Elian sich von Margaret und den anderen jungen Frauen hier bedroht fühlte? Sie hatten ihm nie etwas getan, und es war nicht so, als ob Rhys mit ihnen Gedichte diskutiert hätte (als ob sie sich dafür interessiert hätten, pah). Oder mit Elian andere Dinge getan hätte (LÄCHERLICH!). Alles war so, wie es sein sollte… und doch frustrierte dieses Haus Elian wie kein anderes. Gefühle waren selten rational, aber sie waren in der Lage irgendwie erklärbar. Dieses war es nicht.
Und doch hatte er hier die anspruchsvollsten Stunden seiner jungen Arztkarriere verlebt. Angst, Erschöpfung, Freude, Hoffnung, Trauer… sogar ein gewisses „Zuhause“-Gefühl, sobald er durch die Tür in den Salon trat, für das er sich immens schämte... sie alle zerrten an ihm.
Jetzt kam eine neue Emotion hinzu. Er hatte die Laterne von sich aus nie als Zufluchtsmöglichkeit gesehen, aber genau das war sie. Und das bedeutete, dass die Leute in diesem Haus seine Freunde waren. Oder zumindest so etwas wie Verbündete, wenn er in der Marine keine hatte. Es war… besorgniserregend. Wird wirklich Zeit, dass ich von dieser Insel runter komme.

Sie saßen an dem Tisch, rührten in ihren Teetassen, schweigend zunächst. Das leise Scheppern von Rhys‘ Löffel entging Elian nicht, und als er die in Zorn oder Angst geballte Faust seines Freundes auf der Tischplatte sah, konnte er nicht anders, er legte seine eigene Hand darauf, wie um ihn… ja, was? Zu trösten? Zu beschwichtigen? Vielleicht auch nur, weil er selbst diese Berührung jetzt brauchte. Die Ruhe, die er jedes Mal empfand, wenn er Rhys‘ Wärme spürte.

Die Frage traf ihn dann doch unvorbereitet. Erpressung… woher kommt diese ganze kriminelle Energie? Was um alles in der Welt ist auf See mit ihm passiert?! Nein, er hatte gesagt er würde nicht fragen. Also würde er nicht fragen, ehe Rhys nicht bereit dazu war, zu reden.
„Hör zu…“ Ich mag den Gedanken nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst. Ich will dir vertrauen, aber das hier ist… sicher dass es nicht zu weit geht? Nein, alles keine guten Antworten. „Du weißt, wie sehr ich dich-- ich meine, wie gern ich dich habe und welch hohe Stücke ich auf deinen Charakter halte, also nimm das hier um Himmelswillen nicht als Kritik, aber…“ Er atmete tief durch. „Erstens, ich kenne natürlich das ganze Bild nicht, also mag es sein, dass Fred verdient hat, was auch immer du dir vorstellst, aber zu kriminellen Maßnahmen zu greifen ist etwas… harsch als erste Reaktion, finde ich. Wir haben uns beide über sein Verhalten erschreckt und vielleicht überreagiert, aber bisher ist nichts vorgefallen was wir nicht wieder… hinbiegen könnten.“ Die gebrochene Nase nicht eingerechnet, ich hoffe sie bleibt lebenslang schief. „Ich bin bei dir, was auch immer du entscheidest, aber bitte… denke einfach darüber nach, ob das was du planst, die Lage für uns verbessert oder verschlechtert, vor allem falls Fred, du und ich nicht die einzigen Beteiligten in dieser Geschichte bleiben.“

Taranis Ives

Er atmete tief aus. Elians Wärme sickerte durch ihre Hände in Tanis hinein und sein Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Gleichzeitig wurde sein Mund trocken und es kribbelte in seinen Zehen. Es war ein merkwürdiges Konglomerat von Empfindungen, die er oft auf die eine oder andere Art hatte, wenn er bei Elian war und nicht davon überwältig wäre wie verdammt attraktiv der Mann war, was eigentlich ohnehin gleichgültig sein sollte, da sie nie gemeinsam auf einem Schiff waren und es an Land wirklich keinen Grund gab, sich mit einem Mann zu begnügen.
„Du hälst grundsätzlich zu viel auf meinen Charakter, mein Lieber.“ Er sagte ihm das oft genug. Tanis schluckte das warme Gefühl in seinem Magen hinunter, ignorierte das Flattern in seinem Hals. Elian mochte Rhys. Eine ideale Person in vielen Fällen und oh so anders, wenn er nicht bei Elian war oder wenn er TANIS war. Es bedeutete nichts, es hieß nichts und es änderte nichts, gleichgültig wie oft er es hörte.
Ich habe nicht vorgeschlagen, ihn zu kastrieren und dann lebendig zu vergraben, was durchaus meine erste Reaktion ist.
 
Tanis starrte zu Boden und dann nach oben und zur Seite. Er fuhr sich mit seiner freien Hand durch die Haare. Nun. Irgendwann….er musste es wissen oder? Es war nicht….alles in allem….ansonsten….
„Ich will nur verhindern, dass er uns weiter verfolgt und dass wir zwei wieder auf dasselbe Schiff kommen.“ Er seufze und zwang sich dann dazu, aufzusehen. „Es….“ Es war besser, wenn der Mann wusste, was auf ich zukam, sollte er demnächst auf ein Schiff kommen. Tanis konnte dann nicht auf ihn aufpassen oder ihm auch nur alles rechtzeitig erklären, geschweige denn die ganze Mannschaft unter die Lupe zu nehmen. „…Fred und ich haben uns gegenseitig ausgeholfen auf See. Das passiert öfters, ich meine, die See und….Monate lang keine weibliche Gesellschaft oder…irgendeine Ablenkung, wenn man das eigene Buch zum fünften Mal gelesen hat…..“ Er schluckte. „Fred scheint das Arrangement ausdehnen zu wollen. Ich nicht. Scheint ihn nicht sonderlich zu interessieren.“







„Und ich liege doch längst nicht so weit daneben wie du bei dem meinen.“ Elian lachte leise. „Von uns beiden bin definitiv ich der bessere Menschenkenner.“
Rhys ging mit sich tendenziell zu hart ins Gewicht. Es lag bestimmt auch mit daran, dass die anderen Offiziere ihn mitunter hänselten. Eigentlich sollte er das inzwischen gewohnt sein, aber jedes Mal wenn Elian Rhys solche Dinge sagen hörte, wurde er unterschwellig wütend und traurig gleichzeitig. Wie konnte ein so wundervoller Mensch so niedrig von sich selbst denken? Es war einfach nicht richtig! Aber egal was er sagte, Rhys schien ihn nicht zu hören. Jedenfalls nicht bei diesem Thema.

Es beunruhigte ihn, wie schwer sich Rhys damit tat, mit der Sprache heraus zu rücken und wäre er nicht so unendlich neugierig gewesen (und außerdem der festen Überzeugung, dass es besser war wenn er wusste, worauf er sich hier einließ – und sei’s nur damit er nächstes Mal überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei hatte, Fred zu verprügeln), er hätte Rhys gesagt, dass er einfach still sein sollte. Elian musste nicht alles wissen. Er vertraute seinem Freund auch so. Es gab in seinem Kopf nichts, das ihn von der Einstellung hätte abbringen können, dass hier der loyalste und tapferste Offizier der königlichen Marine vor ihm saß. Sicher, jeder Mensch hatte Fehler, aber bei Rhys waren sie quasi nichtexistent. Die paar Dinge, die nicht ideal waren, sorgten nur dafür, dass er charmanter wurde.

Und doch… empfand Rhys ganz klar Scham für etwas. Als ob er Angst davor hätte, dass Elian ihn verurteilen würde (als ob!).
Die Neuigkeit überraschte ihn. Er war ebenfalls schon mehrere Jahre zur See gefahren, als Kadett. Allerdings war er damals ein kleiner Rotzbengel gewesen, vielleicht hatte er so etwas deswegen nicht mitbekommen. Oder er hatte Glück gehabt und war nur mit anständigen Männern auf Schiffen gewesen. Fast hätte er über sich selbst gelacht. Anständig – als ob Rhys das nicht wäre. Als ob daran irgendetwas wirklich Verwerfliches gewesen wäre. Sicher, es entsprach nicht der… gesellschaftlichen Norm. Den Regeln. Aber bevor sich alle gegenseitig verprügeln… wenn es ihnen hilft, die Disziplin zu halten… ob man jetzt nur Hand an sich selbst anlegt oder auch an einen Kameraden, na schön, jedem das Seine. Wer war er bitte, die Lebensentscheidungen anderer Leute zu hinterfragen? Die Vorstellung mochte ihn selbst alles andere als reizen, aber… er war auch ein Sonderling. Hatte im Gegensatz zu seinen Kameraden auch kein Bedürfnis, die Angebote der Damen oben wahrzunehmen, obwohl sie sich ihm jetzt schon ein Paar mal als Bezahlung für seine Dienste angeboten hatten. Der Gedanke widerstrebte ihm nicht mal besonders. Er war nur einfach… weniger neugierig? Weniger scharf darauf, rauszufinden, was es mit dem ganzen Terz auf sich hatte? Vielleicht wartete er nur einfach auf die richtige Partnerin. Aber wenn er sich so ansah, wohin die Geilheit manche Männer scheinbar trieb (Wirklich, Fred? WIRKLICH?), war er doch ganz froh, dass er keinen Anteil daran hatte…

„Fred?!“ Elian hob die Augenbrauen. „Ich hinterfrage keineswegs seinen Geschmack, aber… wie langweilig war dir bitte?!“ Warum ärgerte er sich eigentlich so? Es war nicht, weil Fred ein Mann war. Das störte ihn zu seiner eigenen Überraschung überhaupt nicht. Sex war so oder so… nichts, was er unbedingt haben musste, aber er ließ sich sonst auch nicht von der Gesellschaft vorschreiben, was er von etwas zu halten hatte und er würde jetzt nicht damit anfangen. Wenn Rhys es tat, konnte es so schlimm nicht sein. „Du könntest jederzeit machen, was ich tue, und selbst Geschichten schreiben.“ Elian seufzte, aber er zog seine Hand noch nicht weg. „Ich hinterfrage nicht, was ihr getan habt. Oder… verurteile es. Ich glaube nicht, dass irgendwer ein Recht dazu hätte, aber…“ Er verzog das Gesicht. „Fred. WIRKLICH?!“ Was sah Rhys an dem Kerl? Im Ernst? Gut, er war… muskulös. Und nicht hässlich, nur… grobschlächtig. Na schön, mancher Frau gefiel das vielleicht und… nannte er Rhys gerade eine Frau? Göttin, das war so falsch. Aber wenn es Frauen gefallen konnte, gefiel es vielleicht auch Männern und…

Und dann fiel ihm etwas anderes ein, das ihn erst blass und dann knallrot werden ließ. Er räusperte sich, nahm seine Hand von Rhys‘ und rieb sich damit durch den Nacken, während er nach seiner Fassung suchte. Natürlich ist Lieutenant Montrose eingeladen uns zu begleiten. Noch ein Räuspern, während kalter Zorn in ihm hochwallte wie eine Welle der Genugtuung. Wenigstens habe ich jetzt eine Ausrede, ihn umzubringen, wenn ich ihn sehe. Rhys‘ Unschuld darf ich nicht verteidigen, aber wir haben nie etwas über meine eigene gesagt.

Taranis Ives

Oh Elian…
Tanis machte sich Sorgen um seinen Freund. Er machte sich wirkliche, große Sorgen. Wie sollte der Junge jemals auf die Art zurecht kommen? Auf der anderen Seite schien es ihm oft so, dass Elian bei ihm um einiges blinder war, als bei den meisten anderen Menschen. Wenn Fred sich die Hälfte von den Dingen erlaubt hätte, die Tanis sich innerhalb der letzten Jahre in Elians Nähe geleistet hatte, wäre ihm um einiges früher die Nase gebrochen worden. Oder er wäre angezeigt worden. Wer wusste schon, wie Elian auf manche Dinge reagierte.
„Hm. Du erlebst meine gezähmte Seite mit Poesie und Musik.“
Was tatsächlich nicht falsch war. Er war die beste Version seiner selbst, wenn er bei Elian war und in manchen Fällen war er BESSER als die beste Version seiner selbst, einfach, weil er GUT sein wollte, wenn Elian dabei war, aber er machte sich keine Illusionen darüber, dass er ein durch und durch verdorbener Mensch war. Er war damit ganz zufrieden. Es hieß allerdings auch, dass der gute Doktor Montrose keine Nase für Schlechtigkeit in den Menschen hatte.
Er rechnete allerdings damit, dass Elian ihn HIERFÜR wirklich verachten würde. Es war deutlich geworden, was er von Bordellen hielt, von übermäßig viel Sex mit Frauen, auch wenn er mittlerweile Dauerkunde hier war und sich Tanis das immer noch nicht verzeihen konnte. Margaret für ihren Teil sprach immer nur gut über Elian, auch wenn der sie ganz offenkundig nicht mochte. Die Frage, ob sie ihn schon einmal bedient hatte, hatte sie nie beantwortet. In seinen dunklen Stunden stellte sich Tanis das Arrangement als leidenschaftlich und hitzig vor, fand keinen Schlaf und hasste sich selbst dafür.
 
Verachtung und Ekel waren nicht das, was ihm entgegen geschleudert wurde. Nur die Frage nach seiner Partnerwahl, was nicht von der Hand zu weisen war, auch wenn man dabei bedenken musste…eine Hand war eine Hand. Und wenn er Fred weit ab vom Pfad der Tugend führte, war das von weitreichender Konsequenz, als wenn er sich irgendeinen hübschen Matrosen gesucht hätte. Attraktivität wurde überbewertet und wenn er danach gegangen wäre, hätte er ohnehin niemanden gefunden, der auch ansatzweise so attraktiv gewesen wäre wie El- nun, so oder so…
Warum wurde er JETZT rot?
Tanis blinzelte. Seine Hand war kalt und er sah Elian mit schiefgelegtem Kopf an, ehe es ihm langsam klar wurde. Oh.
„Du hast wirklich bis eben angenommen, dass ich von Poesiestunden spreche oder?“ Er verzog das Gesicht. „In dem Fall hätte mir wirklich sehr langweilig sein müssen. Fred bevorzugt Klassiker, wenn man das glauben möchte. Er versteht kein Wort davon, nimmt alles wörtlich und ich fürchte es ist alles, was er als Schuljunge gezwungen worden ist zu lesen.“
Eigene Geschichten hätten sich am Ende nur um Elian gedreht und danke, nein. Er brauchte niemandem noch mehr Zündstoff geben. „Du könntest mir auch einfach von deinen Geschichten ein wenig mehr zu lesen geben.“
Das wäre vermutlich ganz angenehm. Vor allem, wenn Elian jetzt wirklich plötzlich Probleme damit hätte, ihn zu berühren. Es war nicht so, als ob Tanis abseits eines Schiffes irgendetwas versucht hätte! Er war nicht derart pervers, wie Fred das war…
 







Erst als Rhys ihn fragte ging ihm auf, für wie unverdorben – beziehungsweise naiv – er hier gehalten wurde. Er konnte nicht ganz entscheiden, ob er es schmeichelhaft oder beleidigend finden sollte, und entschied sich dann für leichte Irritation.
„Nein, habe ich nicht. Ob du es glaubst oder nicht, ich bin Arzt. Ich weiß, was Sex ist.“ Es fühlte sich immer noch falsch an, das Wort einfach so in den Mund zu nehmen. Es gehörte nicht in gute Gesellschaft. Aber er hatte sich gleichzeitig angewöhnt, Rhys gegenüber weniger Blätter vor den Mund zu nehmen als beim Rest der Welt, und wenn er zeigen wollte, dass ihn das Thema nicht unangenehm berührte, musste er seine Hemmungen abbauen. Vielleicht würde Rhys sich dann künftig auch weniger genieren, mit ihm über solche Sachen zu reden. Jemand versuchte ihn zur körperlichen Nähe zu zwingen. Es war… widerwärtig, wie man es auch drehte und wendete. Nicht zwingend der Akt als solcher (Sodomie… na gut, jedem das seine, aber wirklich, Sodomie… wie langweilig konnte einem werden?!), sondern die Unfreiwilligkeit eines der Beteiligten. So wenig reizvoll Elian sich Geschlechtsverkehr vorstellte, diesen mit jemandem zu haben, der sich schreiend wehrte oder ganz offenkundig keinen Spass dabei hatte, war nochmal eine Stufe abstoßender.

„Du meinst, mehr als die, die ich dir ohnehin schicke?“ Elian seufzte. „Ich wette, dass davon ohnehin nur die Hälfte ankommt. Aber ich habe noch ein paar Erzählungen für Charleen, die ich noch nicht abgeschickt habe, die du dir gerne später durchlesen kannst.“ Er hob selten Geschichten auf, sondern verschickte immer alles an Rhys und seine Geschwister… abgesehen von ein paar wenigen Schriften, die er niemandem zeigte. Vielleicht, weil er sich in ihnen verwundbarer fühlte als in den anderen, oder weil er Angst hatte, dass man zu viel von ihm selbst zwischen den Zeilen würde lesen können. Ein wenig Projektion war schön, aber zu viel, und das Ganze wurde zu einem Geständnis von Sachen, die keinen etwas angingen.

„Aber zurück zum Thema… womit willst du ihn erpressen? Wenn wir annehmen, dass eure… Affäre seinen Ruf als Offizier schädigen würde,“ was sie tun wird, bei aller Liebe… Rhys, was habt ihr euch dabei gedacht? „dann wird sie das für dich ebenso tun. Und das ist keine Option.“

Taranis Ives

„Ich weiß, dass du weißt, was es ist. Du bist oft genug hier.“ Was ihn nicht stören sollte. Wirklich nicht. Sex für jeden, Freiheit für jeden und wirklich, Bordelle waren wundervolle Orte, wenn sie halbwegs die richtigen Kunden hatten und vermutlich gab es keinen besseren Kunden als Elian. Er war vermutlich sanft und darauf bedacht, dass beide Parteien ihren Spaß hatten, aufmerksam und er war kräftig genug, um es interessant zu machen, also – wo war er noch einmal gewesen? Es hatte ein anderes Thema gegeben…ah. Ja. Fred. Irgh.
„Ich mag die Geschichten. Mehr ist immer gut.“ Er schmunzelte und streckte die Beine aus, sah Elian an und ließ seine Augenbrauen nach oben wandern. „Auch wenn ich sagen muss, dass du ein wenig zu nachsichtig gewesen bist mit deinem Tjell Elsterspiegel. Dir ist bewusst, dass er ein Verbrecher ist oder?“ Er LIEBTE die Geschichten. Sie halfen ihm oft auf See und sie hatten auch dafür gesorgt, dass er wusste, dass er niemals selbst etwas schreiben würde. Er konnte sich nicht kurz fassen, er war nie leichtfüßig. Er schrieb, er schrieb tatsächlich, aber das was er schrieb wuchs und wuchs und wuchs und es deprimierte ihn mehr als irgendetwas anderes. In aller Regel schrieb er dann, wenn er sich traurig fühlen konnte. Die Elendigen - Arbeitstitel – würden sich sicherlich niemals in Elians Händen befinden.
 
Womit er ihn erpressen würde…nun….
„Du willst es nicht wissen.“ Er verzog das Gesicht. „Ich habe ihn Sachen machen sehen, die NICHT mit mir waren und….es würde ausreichen, wenn sein Vater es erfahren würde.“ Er hatte ihn Sachen machen sehen, bei denen sich IHM der Magen umgedreht hatte. Und er hatte ihn tatsächlich ein paar Mal bei gewissen Dingen aufgehalten. Dafür gab es Zeugen. Ausreichend Zeugen, dass es eine Drohung wert war. Es würde nur dazu führen, dass er WIRKLICH nicht mehr mit Fred auf einem Schiff sein sollte, weil der Mann ihn garantiert über Bord werfen würde. „Es würde vermutlich ausreichen, wenn IRGENDJEMAND es erfahren würde.“ Er schüttelte sich. Allein die Erinnerungen waren…das waren Dinge, die er nicht einmal in seinem Epos der Traurigkeit verarbeiten würde.







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