Inselwelten

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straight to hell
Lucien & Yaris | 14. März 1822

Verbissen stolperte der Mann durch den Stoß in den Rücken über die Schwelle, verlor durch den Schwung das Gleichgewicht und landete sehr unsanft auf der Schulter. Die schweren Ketten an seinen Hand- und Fußgelenkten schlugen geräuschvoll gegeneinander. Alles begleitet von einem hämischen Lachen in der Zellentür. Hilfe beim Aufrichten – Fehlanzeige. Schwerfällig brachte sich der 31 Jährige also selbst in eine Sitzposition. Nicht sonderlich einfach, mit einem vom Auspeitschen blutigen Rücken. Oder wenn die Handgelenke hinter dem Rücken in schweren Eisenschellen steckten. Aber dass genau das die gesündeste Entscheidung für die Soldaten der Marine war, hatten sie erst schmerzhaft erfahren müssen. Denn obwohl der Attentäter durch die ganz spezielle Gastfreundschaft der Marine geschwächt sein sollte, war er noch immer sehr agil und wehrhaft. Einer der Soldaten hatte das mit dem Leben bezahlt und einige andere eine schmerzhafte Begegnung mit seinen Schlägen gemacht. Jedenfalls bis man ihn von hinten mit einem Gewehr niedergeschlagen hatte. Aus dieser schiefgegangenen Verlegungsaktion auf das Gefangenenschiff gelernt, hatte man ihm die Hände auf den Rücken gefesselt.
Yaris‘ grüne Augen trafen die des Soldaten, der ihn in die Zelle geschubbst hatte. Keinerlei Regung stand in denen des Attentäters. Völlig unberührt lehnte er sich zurück gegen die Gitterstäbe der Zelle, obwohl es zweifelsohne eine Höllenqual sein musste. Die Wunden, die die Peitsche hinterlassen hatte, waren tief. Der Stoff des Hemdes, das aus hellem, rauem Leinenstoff gefertigt war, rot vom Blut – teilweise bereits getrocknet, aber auch frisches, denn unter der Belastung rissen sie immer wieder von neuem auf.

Der Soldat knurrte uncharmante Worte ob der fehlenden Reaktion, spuckte Yaris eine vom Kautabak braune Ladung Speichel vor die Füße und schlug das Gitter zu. Während ein anderer Soldat die Zelle gewissenhaft abschloss, ließ der noch einmal den Blick über die Gefangenen gleiten, die in der Zelle saßen. Yaris hingegen lehnte den Kopf zurück gegen das Gittergestänge und starrte an die Decke. Tja, so sollte also sein Ende aussehen. Enthauptung … Das hatte er nicht einmal einem seiner Opfer etwas angetan. Schnell und effektiv. Das war seine Methode. Schon witzig. Ein seichtes Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. Amüsiert, auch wenn an dieser Sache eigentlich nichts amüsant war. Wohl eher Galgenhumor.

Samuel Zaedyn

Selbst die dunkelste Ecke der Brig der Morgenwind, in die er sich verkrochen hatte, wurde für Samuels Geschmack noch von zu vielen Lichtstrahlen beleuchtet. Der als vermeintlicher Mörder zum Tode Verurteilte wollte so wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie möglich und am besten von keiner Menschenseele behelligt werden - und er hatte sich diesen Zustand in der Zeit, die er bereits auf diesem Schiff verbracht hatte, mühsam erarbeitet. Seine Mitgefangenen auf der Morgenwind kamen nicht aus demselben Ort wie er, hatten deshalb nicht bereits von seiner Tat gehört und waren folglich nicht von Beginn an so sehr eingeschüchtert gewesen, dass sie es überhaupt nicht erst wagten, das Wort an ihn zu richten oder ihn auch nur offen anzusehen. Nein, hier hatte er sich den Ruf als kaltblütiger, wahnsinniger Mörder durch verschiedene Versionen seiner Geschichte neu aufbauen müssen. Was sicherlich dabei half, waren die leicht herausfordernde Körperhaltung und der manische Blick, den er immer dann auflegte, wenn er sich beobachtet fühlte oder besonders abschreckend auf seine Umgebung wirken wollte. Aus diesen Gründen hatten seine Mitgefangenen schnell damit begonnen, seine Gesellschaft zu meiden - und das war die Art und Weise, wie er die letzten Tagen oder Wochen seines Lebens schlussendlich verbringen wollte. Allein.

Der 37-Jährige hatte es schon vor einiger Zeit aufgegeben, seine Unschuld zu beteuern. Er hatte seine Ehefrau nicht ermordet - doch sein Vater, der oberster Richter auf seiner Heimatinsel war, hatte dafür gesorgt, dass niemand ihm Glauben schenkte. Er wurde ohne richtigen Prozess zum Tode durch den Strick verurteilt und eingesperrt. Doch nicht nur die anständigen Bewohner seines Dorfes, Männer und Frauen, die er gekannt hatte, sahen ihn als Mörder, auch andere Verbrecher, mit denen er sich in den letzten Jahren notgedrungen unterhalten hatte, schienen ihm seine Version der Geschichte nicht zu glauben, sodass er schließlich beschlossen hatte, sich in sein Schicksal zu ergeben und die Gefahr, die andere anscheinend in ihm sahen, zu nutzen, um die letzten Tagen oder Wochen seines Lebens möglichst unbehelligt verbringen zu können.

Als der Neue in die Zelle geworfen wurde, blickte Samuel nur für einen Moment auf. Ein weiteres Gesicht, dem er irgendwann seine Geschichte würde erzählen müssen - oder ein anderer Häftling würde das für ihn übernehmen. Dann gab es zwei Möglichkeiten: Entweder, der Neuankömmling würde sich daraufhin nicht mehr trauen, ihn persönlich anzusprechen, oder er würde kein Wort davon glauben. Dann würde Samuel sich mit ihm abgeben müssen, was ermüdend war und ihn langsam, aber sicher langweilte. Mit düsterem Blick versuchte er, noch ein wenig weiter in die Dunkelheit seiner Ecke zu rücken, um dem Blick des Mannes, der etwas jünger als er sein musste, möglichst lange zu entgehen. Mit etwas Glück würde dieser eine Zeit lang mit sich selbst beschäftigt sein, und vielleicht wären sie dann bereits auf Esmacil.
Als das Klirren eines Schlüsselbundes das Herannahen eines Wachmanns ankündigte, horchte Lucien unwillkürlich auf. Er wusste nicht einmal, warum überhaupt noch. Die Pläne seiner Flucht und der Rückkehr zu seiner Schwester hatte er in den trostlosen Monaten seines Aufenthalts in Linaras Gefängnis ohnehin längst aufgegeben. Nicht, weil es ihm aussichtslos erschien, bestimmt nicht. Viel mehr, weil... nun ja... die Zeiten änderten sich, nicht wahr? Inzwischen wusste er nicht einmal mehr, ob er überhaupt auf seine Heimatinsel zurück wollte. Ob es nicht besser wäre, wenn sie dort glaubten, er würde niemals wieder kehren. Denn raus kommen würde er früher oder später mit Sicherheit.
Immerhin saß er nur für ein paar Jahre ein. Ihn hatte man schließlich nur für etwas so Lapidares wie Schmuggel und Hehlerei verhaftet. Das war doch nichts im Vergleich zu dem bärtigen Typen, mit dem sich der junge Mann auf diesem Kutter eine Zelle teilte. Der hatte schon in seiner dunklen Ecke gesessen und sich in seinen Schleier aus möglichst bedrohlichem Schweigen gehüllt, als Lucien die Ehre zuteil wurde, sich zu ihm zu gesellen. 'Pass bloß auf, dass du dem da nicht ans Bein pisst, Junge. Der dreht dir den Hals um, wie einem krähenden Gockel.', hatte ihn der zahnlose Schwarze in der Nachbarzelle ohne Umschweife wissen lassen. Warum genau der Kerl in der Ecke das tun würde, hatte man ihm dann bedauerlicherweise nicht erklärt – wohl, weil Lucien nicht, wie vermutlich erhofft, das eingeschüchterte Klatschweib gespielt und sich die Geschichte hatte erzählen lassen. Sondern weil er es vorzog, sich kommentarlos zurück zu lehnen, die grünen Augen zu schließen und das stumpfsinnige Gelaber zu ignorieren.

So saß er noch immer da; die hölzerne Schiffswand dieses Marinekleppers im Rücken und drei Halme Stroh unter dem Hintern, die den armseligen Versuch darstellten, die Pfützen aus Angstpisse aufzusaugen, nach denen es hier unten überall stank. In diesem Moment wurde die Zellentür ein weiteres Mal geöffnet und der nächste Unglückselige gesellte sich in ihre muntere Runde. Das Geräusch eines fallenden Körpers, die hämische Lache des Soldaten und Lucien öffnete ohne sichtbares Interesse die Augen, um zu verfolgen, was sich vor ihm abspielte. Der Neuankömmling richtete sich gerade umständlich wieder in eine sitzende Position auf, was dem 21-Jährigen einen zwar kurzen, aber völlig ausreichenden Blick auf den blutdurchtränkten Rücken gewährte. Dann lehnte sich der Fremde gegen die Gitterstäbe und der Soldat schloss die Zellentür.
Doch gerade, als er die Augen wieder schloss und seine Gedanken auf das sanfte, gleichmäßige Schwappen der Wellen am Schiffsrumpf richten wollte, funkte Lucien das unbestimmbare Gefühl von Erkennen dazwischen. Kurz runzelte sich seine Stirn, dann schlug er die Augen ein weiteres Mal auf und musterte den Neuankömmling mit leise erwachendem Interesse. Nicht dieses völlig unpassende Lächeln machte ihn stutzig – ehrlich, irgendwie war ihm in seiner Lage auch bloß nach einem trockenen Lächeln – sondern dieses Gesicht. Es kam ihm aus irgendeinem Grund wage bekannt vor, obwohl er seinen Kopf darauf verwettet hätte, dem Mann noch nie zuvor begegnet zu sein. Dunkles Haar, markante Züge, starrend vor Schmutz wie alle hier. Im Grunde nur ein rauer Kerl wie jeder andere. Lucien hätte es dabei belassen sollen, doch die nachdenklich verengten Augen lösten sich nicht von dem Älteren, während er in seinen Gedächtnis nach einer Antwort kramte.
Yaris kannte die kärgsten und widrigsten Lebensumstände. In den ersten Jahren seines Lebens hatte er sie zur Genüge kennen gelernt. Sein Vater hatte ihn nur auf dem kalten Boden in der Ecke schlafen lassen und nachdem er ihn umgebracht hatte, hatte er in den ersten Jahren nie genug Geld gehabt. Erst nach und nach hatte er von seinem Beruf als Attentäter leben können. Und dennoch, es hat nie mehr gegeben, als eine billige Absteige, auch wenn er sich mehr hätte leisten können. Das Leben hatte ihn gelehrt, mit wenig zufrieden zu sein und das hatte sich in all den Jahren nie geändert.
Aber in so einem Loch wie diesem, hatte er sich nur selten wiedergefunden. In Situationen, die ihn in die Kanalisation getrieben hatten. Doch auch das hatte es nur selten gegeben. Was wollte man auch von der Marine und ihren Gefangenentransporten erwarten. Sie alle waren der Abschaum der Gesellschaft – die einen mehr, die anderen weniger.

Yaris war geschmerzt und nach dem Schlag von vorhin schmerzte nicht mehr nur sein blutender Rücken, sondern auch sein Kopf. Doch nur zu gern würde er diesem verdammten Soldaten sein hämisches Gelächter bis in sein dämliches Hirn treiben – zusammen mit seinem Nasenbein, verstand sich. Nur wäre das verdammt unklug und er leider nicht so ganz in der Lage, nachdem die Zellentür zugeschlagen worden war. Verdammtes Inzestpack.
In den Zellen um sie herum würde leise geredet, während sich die Stimmen der Soldaten, begleitet von schweren Schritten, entfernten. Yaris versuchte eine halbwegs erträgliche Sitzposition zu finden. Sein Rücken pochte und klebte. Der raue Stoff des Leinens scheuerte noch mehr. Nicht besonders förderlich. Zudem waren da noch die schweren Eisenketten.
Ein Bein angewinkelt aufgestellt, das andere angewinkelt auf dem feuchten Boden abgelegt, machte der Attentäter das Beste daraus, und ließ den Kopf zurück gelehnt an den Gitterstäben. Nicht einen Blick hatte er auf etwaige Zellengenossen geworfen. Wieso auch. Sie alle hier hatten dasselbe Ziel. Aus welchem Grund sie hier waren oder welches Schicksal sie erwartete, war ihm so was von Schnuppe.

Dennoch, irgendwann hoben sich die Lider und der dunkle Schopf sank herab. Wache Augen von funkelndem Grün wanderten – ohne dass sich der Kopf mitbewegte -  durch die Zelle. Sein untrüglicher Instinkt sagte ihm, dass er beobachtet wurde und Yaris‘ interessierte sich zwar nicht für seine Mitgefangenen, für den, der ihn da so intensiv musterte hingegen schon. Sein Blick streifte zunächst den älteren Mann in der Ecke, dessen finstere Miene ihm wohl Ruhe vor anderen garantieren sollte. Der war mehr mit sich selbst beschäftigt. Einige abgewandte Köpfe in den umliegenden Zellen schieden auch aus.
Allerdings saß ihm schräg gegeben über ein junger Kerl, dessen Blick ruhte unverwandt und sogar skeptisch verengt auf seiner Person. Ohne jede Regung hielt der Ältere dem Blick stand. Wich kein Stück zurück, sondern stellte eher desinteressiert und doch drohend mit dem Funkeln in seinen Augen unmissverständlich die Frage, was sein Problem war. Yaris war vielleicht geschwächt, weit entfernt von fit, doch er war mindestens genauso weit entfernt davon sich nicht zur Wehr zu setzen, wenn der andere Stress wollte – weshalb auch immer. Denn der 31 Jährige war sich ziemlich sicher, diesem Gesicht noch nie begegnet zu sein. Doch was bedeutete das schon in seiner Berufswahl. Er hatte ihn nicht getötet – offensichtlich. Aber hinter jedem Auftrag standen Familien – Eltern, Geschwister, nahestehende Verwandte - und Freunde, die für ihren Verlust nur zu gern blutige Rache am Mörder ihrer Liebsten verüben würden. Es war also alles möglich.

Samuel Zaedyn

Samuels Hoffnungen auf völliges Desinteresse des Neuankömmlings an seinen Mitgefangenen zerstreuten sich ebenso schnell, wie die Wachen die Zellentür hinter dem Braunhaarigen zugestoßen hatten. Es dauerte nicht lange, bis dieser damit begann, seine Umgebung zu mustern, wobei sein Blick bedauernswerterweise auch auf ihn fiel. Zu seinem Glück jedoch richtete der neue Gefangene seine Aufmerksamkeit nicht auf ihn, sondern auf den jungen Burschen, der ihn bisher als einziger der bemitleidenswerten Hunde in dieser gottverlassenen Zelle nicht auf seine Geschichte angesprochen oder ihm nervöse Blicke zugeworfen hatte, weil andere sie ihm erzahlt - und dabei sicherlich kräftig ausgeschmückt - hatten. Grundsätzlich war Samuel froh darüber, von einem Menschen weniger belästigt worden zu sein, doch das ganz und gar unbeeindruckte Verhalten des bemerkenswert entspannten Mannes beunruhigte ihn zeitgleich auch ein wenig. Schließlich baute seine gesamte momentane Existenz darauf auf, dass möglichst jeder um ihn herum zumindest so viel Respekt vor ihm - oder besser gesagt dem, was er zu sein vorgab - hatte, dass er ihn in Ruhe ließ und ihm keine Probleme bereitete. Bei besagtem jungen Mann war er sich dessen jedoch nicht ansatzweise sicher.

Auffällig an der aktuellen Situation war, dass sowohl der Neuankömmling als auch der junge Mann den Blick aufeinander gerichtet hatten, der Ausdruck auf ihren Gesichtern dabei jedoch gänzlich verschieden war. Während er sich mit dem Neuen zumindest in dieser Situation recht gut identifizieren konnte, weil das drohende Funkeln in dessen Augen ihm nur allzu bekannt war, zeigte der Jüngere von beiden unverhohlenes Interesse. Was genau der Grund dafür war, vermochte Samuel zwar nicht zu deuten, doch es lag eindeutig eine, wenn auch subtile, Spannung in der Luft, welche im Kontrast zu der äußerst eintönigen Atmosphäre der letzten Tage beinahe schon aufregend war. Und es war nicht nur er, dem die stille Konversation auffiel. Zu seiner Rechten hatten es sich zwei äußerst heruntergekommene, eher kleinwüchsige Männer im mittleren Alter bequem gemacht, die anscheinend wegen des Diebstahls einiger Ziegen verurteilt worden waren und sich durch einen beeindruckenden Mangel an Zähnen auszeichneten. Der eine von beiden - Eddy, wie er von seinem Kumpel genannt wurde, rempelte diesen soeben leicht an.

"Ey, Steve. Steve! Steve?", flüsterte er, ehe er merkte, dass sein bester Freund anscheinend eingeschlafen war und ihm seinen Ellenbogen diesmal etwas härter in die Seite rammte. "Steve! Was iss'n mit den beiden da los, he?"

Mit einem Grunzen, auf das jedes Hängebauchschwein neidisch gewesen wäre, erwachte Steve aus seinem Schlummer und schaute sich für einen kurzen Moment panisch um, ehe der ausgestreckte Finger seines Nachbarn seinen Augen den Weg zu der Szenerie wies, die Eddy so brennend zu begeistern schien.

"Was machn die'n da?", fragte der noch schlaftrunkene Steve nuschelnd, während sein Blick zwischen den beiden Beteiligten hin und her huschte.

"Keine Ahnung, Steve. HEY! Hey, ihr beiden! Nehmt euch'n Zimmer", rief Eddy unvermittelt und grinste dümmlich angesichts seines für seine Begriffe wohl formidablen Witzes.

Samuel schnaubte verärgert, denn er hätte es gern gesehen, wie der Neuankömmling und der Junge allein mit der Situation umgegangen wären - ob einer von beiden den Blickkontakt schließlich abgebrochen, sich ein Gespräch oder vielleicht sogar eine Handgreiflichkeit entwickelt hätte. Aus diesem Grund warf er Eddy einen finsteren Blick zu und entschied sich dazu, ihn zurechtzuweisen, in der Hoffnung, dass die beiden anderen die Störung ignorieren würden.

"Halt dein Maul", murmelte er einfach nur in die Richtung des Kleinkriminellen, der ihn daraufhin ängstlich anstarrte und näher zu Steve rückte, der darüber wiederum gar nicht glücklich erschien. Immerhin diese Vollidioten hatten Angst vor ihm, dachte Saumel mit einem Hauch Genugtuung und wandte sich wieder den beiden interessanteren Personen zu.
Als hätte sein Gegenüber die Blicke gespürt, die ihm galten, öffnete er nur wenige Momente später die Augen und starrte zurück. Feindselig, geradezu, wenn Lucien seinen Eindruck in Worte hätte fassen müssen. Ein nonverbales was willst du? wie er es schon von Kindesbeinen an kannte – und das ihn ebenso wenig beeindruckte, wie früher. Zwar verschwand das nachdenkliche Stirnrunzeln von seinen Zügen, doch nur, um einem ungerührten, fast spottenden Lächeln Platz zu machen. Der Gedanke, dass ihm das Gesicht des Fremden seltsam bekannt vorkam, rückte derweil in den Hintergrund.
Fast im gleichen Augenblick wurden in der Nachbarzelle zwei aufgeregte Stimmen laut. Ein Ruf von der Seite brachte Lucien schließlich dazu, den Kopf abzuwenden. Die grünen Augen streiften nur kurz seinen zweiten Zellenkumpanen, dann entdeckte er Steve und Eddy, beide nicht viel hübscher als die zwei Männer in seiner eigenen Zelle – und der ganze Rest auf diesem Kutter. Und beide schienen ganz begeistert von der Szenerie zu sein, die sich vor ihnen abspielte. Nicht verwunderlich, da sie so ziemlich das aufregendste war, das man in ihrer derzeitigen Situation zu sehen bekam. Zu Luciens Erstaunen – und vermutlich zum Entsetzen aller anderen – war es der Bärtige in seiner dunklen Ecke, der die beiden prompt wieder zum Schweigen brachte und dem jungen Mann dabei fast ein leises Lachen entlockte. Er stieß jedoch nur leise amüsiert die Luft zwischen den Zähnen aus.

Sieh einer an. Er kann sogar sprechen.“, kommentierte Lucien den Einwurf des älteren und maß ihn mit einem Seitenblick. So weit er sich zurück erinnern konnte, hatte besagter 'er' das in seinem Beisein jedenfalls noch nicht ein einziges mal getan.

Im Nachhinein empfand der junge Mann es allerdings fast als bedauerlich, dass er sich hatte ablenken lassen. Irgendwie reizte ihn die Frage, wie weit er den Neuankömmling hätte provozieren können, wenn er das Blickduell nur eine kleine Weile fortgesetzt hätte. Ein Wortgefecht? Ein ausgewachsenes Gerangel? Der Kerl kam ihm jedenfalls nicht wie der nächstbeste Waschlappen vor – ebenso wenig wie der Bärtige in der anderen Ecke – und gerade wäre ihm alles recht, um seinen Kopf zu leeren. Alles, um nur nicht an die denken zu müssen, die er zurück gelassen hatte und nun vielleicht nie wieder sah. Wenn die Mauern Esmacils ihn in den Wahnsinn trieben, ihn ein Wärter vor lauter Langeweile versehentlich zu Tode peitschte oder er schlicht und ergreifend an irgendeiner Seuche krepierte.
Da erschien es ihm fast besser, sich hier drinnen von einem seiner Zellengenossen umbringen zu lassen...
Mit einem leisen, irgendwie entnervten Seufzen brachte sich der junge Mann in eine bequemere Sitzposition. Er zog die Beine locker an den Körper und legte mit vernehmlich klirrenden Handketten die Arme auf seine Knie. Der Moment unausgesprochener Spannung im Raum war für's Erste verflogen – jedenfalls von seiner Seite aus – und Lucien verspürte auch nicht mehr groß das Interesse, herauszufinden, warum ihm der Fremde so merkwürdig bekannt vor kam. War vermutlich eh nur Einbildung, denn mit schmutzigem Gesicht, zotteligen Haaren und Bart sah ohnehin jeder wie der andere aus.
Er lehnte den Hinterkopf wieder an die Schiffswand in seinem Rücken, ließ nun jedoch die Augen geöffnet und behielt den Neuankömmling im Blick. Nur für den Fall...

Wer hätte gedacht, dass ich gleich das Interesse sämtlicher Klatschweiber hier wecke, wenn ich nur die Augen auf mache.

Ein trockenes Lächeln begleitete seine Worte, die zwar an niemand bestimmten gerichtet waren, wohl aber gerade so vernehmlich, dass selbst Eddy und Steve sie über ihr Zähneklappern hinweg hören konnten. Lucien für seinen Teil ließ offen, wen genau er damit betitelte.

Echt armselig. Aber wenn man sonst keinen mehr hoch kriegt...
Yaris mochte es überhaupt nicht, auf diese Weise angestarrt zu werden. Zu viel Neugier war entweder nicht gut für ihn oder endete schlecht für den anderen. Der Jungspund verstand die stumme Drohung postwendend. Zwar blieb der Blickkontakt, doch die anfängliche Skepsis wich einer spöttischen Note. Eine Antwort auf seine Drohung, mit der dieser unmissverständlich klar machte, dass er keinen Schiss hatte und die Herausforderung ohne mit der Wimper zu zucken annehmen würde. Taffes Kerlchen mit Eiern in der Hose. Wirklich. Damit entlockte er Yaris ein belustigtes Schnauben. Ihr wortloser Schlagabtausch jedoch wurde jäh unterbrochen, als sich eine Stimme aus einer der benachbarten Zellen einmischte. Am Tonfall zu vernehmen, kam dieser sich damit verdammt witzig vor. Damit war er jedoch auch der einzige. Keiner lachte. Nur ein bissiger Kommentar von dem Typen aus der Zelle.
Unbeeindruckt und gelassen wanderte der Blick des Attentäters erst zu diesem möchte-gern-Witzbold, der sich doch glatt ängstlich hinter seinem Kumpel versteckte und damit nur noch lächerlicher wirkte, und dann weiter zu besagtem Dritten ihres Zellentrios. Seine Stimme war kalt gewesen, seine Augen strahlten auf den ersten flüchtigen Blick dieselbe Kälte aus, doch jetzt, wo Yaris ihn eingehender betrachtete, wirkte etwas … schief an ihm. Was es war, dafür musste er ihn auch nicht länger mustern.

Ihre kleine Show hier stellte offensichtlich den Höhepunkt dieser Reise dar. Denn sie zog eine Menge Aufmerksamkeit auf sich. Nach und nach wanden sich ein Kopf nach dem anderen ihrer Zelle zu. Yaris nahm es mit einem innerlichen Augenrollen hin, ließ sich nach außen jedoch nichts anmerken. Desinteressiert lehnte sich sein Kopf wieder zurück an die Gitter der Zelle, als ein weiterer Gefangener in der übernächsten Zelle sich langsam erhob, näher an das Gitter herantrat und schließlich stotternd und auf seine Person zeigend zurückwich. “D .. d … d … das ist d … d … der Attentäter …“ Die Furcht stand ihm in die Stimme geschrieben.
Gelangweilt und ungerührt sank der Blick des Angesprochenen herab und legte sich auf den Mann. Kein einziger Muskel regte sich in Yaris‘ Gesicht. Er musterte einfach stoisch den Mann, der auf Linara in der Zelle ihm gegenüber gesessen hatte und der unter dem nichts und gleichzeitig alles sagenden Blick zurückstolperte.
“Und wenn schon … Der wird dir kaum was tun von dort aus und er wird hängen bevor du wieder rauskommst. Bleib ma locker, Alter.“, knurrte sein Zellengenosse. Es gab viele Mörder auf den Inseln, aber nur wenige Attentäter und nur einen, den man auch direkt als solchen betitelte. Zweifelhafte Berühmtheit, die ihm so was von am Arsch vorbei ging. Ohne auch nur den Hauch von Interesse zu zeigen, lehnte Yaris den Kopf wieder zurück.

Samuel Zaedyn

Die Situation löste sich nach der Störung durch die beiden hirnverbrannten Häftlinge in der benachbarten Zelle leider schneller auf, als Samuel es sich erhofft hatte. Schlimmer noch, der Jüngere seiner beiden Zellengenossen richtete seine Aufmerksamkeit sogar für einen Moment auf ihn und kommentierte seine Worte auf ironische Art und Weise, ohne dabei auch nur den Hauch von Furcht oder Respekt zu zeigen. Ähnlich verhielt es sich bei dem Neuankömmling, der ihn kurz musterte, dabei jedoch ebenfalls eher teilnahmslos als beunruhigt wirkte. Er mochte noch nichts von ihm und seiner Tat gehört haben, bei dem Mann, mit dem er sich schon länger seine Zelle teilte, galt diese Ausrede allerdings nicht. Die anderen Insassen der Brig hatten ihm die Geschichte über seinen grausamen Mord lang und breit erzählt, doch während den meisten von ihnen schon bei der bloßen Vorstellung das Grauen in den Augen stand, hatte der Jüngere sich einfach nur beachtenswert entspannt zurückgelehnt und den Gerüchten, wie es schien, keinen Glauben geschenkt - oder sie waren ihm schlichtweg egal. Nachdenklich betrachtete Samuel den Grünäugigen und fragte sich, woher er seine Furchtlosigkeit nahm. War er selbst ein Schwerverbrecher, der tatsächlich ähnliche Taten begangen hatte wie die, die ihm vorgeworfen wurde? Hatte er in seinem noch nicht allzu langen Leben bereits gelernt, seine wahren Gefühle zu verstecken und gute Miene zum bösen Spiel zu machen? Was es auch war, zumindest unterschied er sich dadurch erheblich von den meisten der Kleinkriminellen, die mit ihnen zusammen auf dem Weg nach Esmacil waren.

Gerade, als Samuel beschloss, sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen und stattdessen mit düsterem Blick den Kopf sinken ließ, ergriff der Grünäugige nochmals das Wort. Der erneut provokant formulierte Kommentar schien sich eher gegen Steve und Eddy zu richten, auch wenn die Augen seines Urhebers bewusst niemanden zu fokussieren schienen. Normalerweise hätte Samuel ihn einfach ignoriert und sich in seine eigene schlechte Laune vertieft, doch etwas an diesem Mann hatte sein Interesse geweckt. Es wurmte ihn, dass der Mann nicht ebenso wie die anderen bestrebt war, einem Konflikt mit ihm um jeden Preis aus dem Weg zu gehen - denn wenn die Menschen um ihn herum damit aufhörten, in ihm eine ernsthafte Gefahr für ihr Leben zu sehen, konnte er sich bis zur Vollstreckung seines Urteils auf deutlich schwerere Zeiten einstellen. Seine gesamte Existenz - das, was davon übrig geblieben war - fußte darauf, dass andere die Geschichten über ihn glaubten und keinen Zweifel daran hatten, dass sein Mord kein Einzelfall gewesen war, der sich niemals wiederholen konnte. Die Information, warum es sich so verhielt, war ihm dementsprechend einiges wert - genug, um sein Schweigen zu brechen und eine dieser lästigen Konversationen in Kauf zu nehmen, sofern sein Gegenüber gewillt war, das Spielchen mitzuspielen.

"Die meisten dieser traurigen Gestalten dürften sich wegen irgendwelcher Nichtigkeiten auf dem Weg zum Galgen befinden. Geschichten sind das einzige, was sie noch haben", murmelte er, wobei er darauf achtete, den Grünäugigen ebenfalls nicht zu direkt anzusprechen. Zudem stellte er keinen Augenkontakt her, sondern hielt seinen grimmigen Blick auf einen besonders dreckigen Fleck vor ihm auf dem Boden gerichtet.

Er wollte gerade etwas hinzufügen, als erneut ein Gefangener aus einer der benachbarten Zellen auf sich aufmerksam machte. Derjenige hatte anscheinend soeben das Gesicht des Neuankömmlings erkannt und war spontan in einen Zustand vollkommener Panik verfallen, denn anders ließ sich sein Verhalten nicht erklären. Solche Störungen waren nervig, doch für diese war Samuel sogar dankbar, denn sie erklärte ihm zumindest, warum dieser sich mit ihnen in der Zelle befand. Ein Attentäter war natürlich ein ganz anderes Kaliber als die anderen, überwiegend für eine zu groß gewordene Anzahl an Bagatelldelikten eingesperrten, Kriminellen auf diesem Schiff. Innerlich seufzte Samuel auf, denn das hieß im Umkehrschluss, dass dieser Kerl sich mit ziemlicher Sicherheit nicht von seiner Vergangenheit würde beeindrucken lassen - wahrscheinlich hatte er selbst schon dem ein oder anderen Opfer die Haut vom Gesicht gezogen.
Im Grunde stellte sich Lucien nach seinen Worten bereits darauf ein, den Rest der Reise wieder in Schweigen gehüllt hinter sich zu bringen. Warum auch nicht? Weder interessierte er sich sonderlich für seine Mitgefangenen, noch hatte die irgendetwas an ihm zu interessieren. Aber er hätte es bedauert. Zwar spürte er etliche Blicke auf sich und seinen Zellengenossen, doch die meisten wagten es nach der scharfen Maßregelung ihres bärtigen Freundes nicht, auch nur ein Wort der Einmischung von sich zu geben. Und so hätte er auch nichts mehr gehabt, auf das er seine Gedanken lenken konnte, wenn der Bärtige in diesem Moment nicht wieder das Wort ergriffen hätte. Nicht, wie zuvor, an die bibbernden Nachbarjungs gerichtet, sondern als Reaktion auf Luciens zugegeben genau darauf abzielenden Kommentare.
Das zynische Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück und einen Herzschlag später richteten sich die grünen Augen erneut auf seinen Zellengenossen. Der Mann sah ihn nicht direkt an, schien eher ganz versunken in die Betrachtung eines besonders interessanten Fleckchens Bodenplanken. Doch der Jüngere kam im Leben nicht auf den Gedanken, er weiche aus Unsicherheit oder gar Furcht dem direkten Blickkontakt aus. Er machte eher den Eindruck, als wollte er schlicht und ergreifend seine Ruhe haben. Warum dann das Risiko eingehen, seinen Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln?
Doch bevor er auch nur dazu ansetzte, ihm zu antworten, wagte es ein weiterer Gefangener, sich stotternd in ihre muntere Runde einzumischen und damit unwillkürlich seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Allerdings nur kurz, ehe Lucien dessen ausgestrecktem Finger mit den Augen folgte und wieder bei dem Neuankömmling landete. Scheinbar verlangte das Schicksal von ihm, sich nun doch ernsthaft mit dem Kerl auseinander zu setzen.
Ein Attentäter – nein, der Attentäter! Scheinbar kannten sich die beiden. Zumindest der eine den anderen. Ob das auf Gegenseitigkeit beruhte, ließ sich anhand des Blickes, den besagter Attentäter seinem Bewunderer zuwarf, kaum deuten. Nichts. Geradezu gelangweilt. Desinteressiert. Der Sprecher wich vor Angst ein paar Schritte zurück, was Lucien prompt ein leises Lachen entlockte. Feigling. Was hatte er zu verlieren? Was sollte passieren? Dass ihn sein Attentäter mit einem Bündel nassen Strohs bewarf? Aber das war sie wohl, die Wirkung von Geschichten. Hübsch ausstaffiert von tausend Mündern, die sie weiter erzählten, die Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Genau das war der Grund, weshalb er auf Geschichten nicht viel gab.
Die grünen Augen kehrten zu dem Bärtigen zurück und eine leise Herausforderung blitzte in ihnen auf.

Geschichten. Ist das also alles, was hinter einem Mann wie dir steckt? Oder ihm?“ Er nickte in die Richtung des Attentäters, mit dem er sich gerade noch ein Blickduell geliefert hatte. Er schwieg einen Moment das trockene Lächeln umspielte wieder eine Lippen. „Geschichten sagen nichts über einen Mann aus... Aber gut, vielleicht hast du Recht. Und ich habe gerade nichts besseres zu tun, also... Deine Geschichte kenne ich schon. Seine noch nicht.“ Mit diesen Worten richtete er den Blick auf den Attentäter. „Will mir die nicht auch noch jemand erzählen? Du vielleicht?

Eigentlich rechnete er nicht mit einer Antwort. Jedenfalls nicht von dem, den er angesprochen hatte. In der ganzen Zeit, die er nun schon hier saß, hatte ihr Neuzugang noch kein einziges Wort gesagt. Warum sollte er sein Schweigen jetzt plötzlich brechen? Und tatsächlich kam die Antwort von demjenigen, der ihn am Beginn seines Aufenthalts hier schon vor dem Bärtigen gewarnt und ihm dann zwangsweise all die Geschichten aufgetischt hatte, die ihn umrankten.

Kennst du denn den Attentäter nicht, Bursche? Jeder kennt ihn!
Er maß Lucien mit einem Blick, der eindeutig sein Beileid ausdrücken sollte. Wahrscheinlich, weil er das 'Pech' hatte, gerade mit diesen beiden Männern in einer Zelle zu landen. Der 21-Jährige unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen und ihn darauf hin zu weisen, dass er ja andernfalls nicht gefragt hätte. Statt dessen stieß er gleichgültig die Luft aus.

Auf Kelekuna haben wir andere Sorgen, als irgendwelche Attentäter.
Yaris stand so ganz und gar nicht darauf im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen. Dazu liebte er die Schatten viel zu sehr. Von niemandem beachtet lebte es sich einfach besser. Und wer war schuld? Ein Taugenichts, der dem Ganzen auch noch eine Dramaturgie verpassen musste mit seiner Panik. Als würde eben dieser Attentäter ihn von seiner Zelle aus, mit auf den Rücken gefesselten Händen und blutig gepeitschtem Rücken auch nur ein Haar krümmen. Lächerlich. Einfach undurchführbar, selbst für einen Künstler des Tötens, wie Yaris es war. Wäre der Fakt der Gitterstäbe nicht, dann müsste der arme Mann einpacken. Einfach nur, um ihm zu zeigen, wie angebracht seine Panik war. Nicht gerade ein Notwendiger Tod, aber er konnte in diesem Fall eine ausnahmen machen.
Die grünen Augen blickten Starr gegen die Decke, um sein Desinteresse zu untermalen. An dem Fakt, dass seine Tätigkeit und der geheimnisvolle Attentäter nun ein hoch offizielles Abbild besaß, konnte er nichts ändern. Sollten die sich das Maul über ihn zerreißen, wenn es sie glücklich machte. Darin musste er diese Deppen nicht auch noch unterstützen, indem er Öl ins Feuer goss nur weil er sich dazu verlocken ließ, seine innig gepflegte stoische Ruhe abzulegen.

Wäre da nicht ein gewisser furchtloser Jungspund, der sich bei der Verteilung von Mut eindeutig ein paar Mal zu viel angestellt hatte, als gut für ihn war. „Geschichten. Ist das also alles, was hinter einem Mann wie dir steckt? Oder ihm? … Geschichten sagen nichts über einen Mann aus ... Aber gut, vielleicht hast du Recht. Und ich habe gerade nichts Besseres zu tun, also... Deine Geschichte kenne ich schon. Seine noch nicht … Will mir die nicht auch noch jemand erzählen? Du vielleicht?“
Sah Yaris etwa so aus, als würde er einfach so aus dem Nähkästchen plaudern? Oder gab er in irgendeiner Weise Anlass das zu glauben? Langsam sank sein dunkler Schopf wieder herab und ein gelangweilter Blick richtete sich auf den jungen Kerl. Ein weiteres schweigendes Blickduell kündigte sich an. Doch als dieser durchläuten ließ, woher er stammte, wurde Yaris hellhörig. Keine wirkliche Regung, das feine Muskelspiel einer Zuckung nur erkennbar, wenn man genau hinschaute und es als tatsächliche Reaktion auch deuten konnte.
Kelekuna. Yaris war nicht mehr dort gewesen, seit er nach dem Mord an seinem Vater geflohen war. Er vermisste diese Insel. Denn obwohl er so viele dunkle Erinnerungen daran hatte, war es doch seine Heimat und es war nicht alles schlecht gewesen.

Nur wenige Augenblicke waren verstrichen, kaum eine Chance, das Wort zu ergreifen, wenn Yaris es denn gewollt hätte. Das übernahm ein weiterer Gefangener. “Jeder kennt doch die Geschichten, die sich um den Attentäter ranken. Man sagt, er hätte Verbindungen bis in die höchsten Kreise des Adels und sogar bis ins Königshaus selbst.“, raunte er mit einer Spur Ehrfurcht, doch überwiegend Furcht. Furcht vor den Taten und davor, wie viele Menschen ihm in seiner Laufbahn wirklich zum Opfer gefallen waren. Yaris selbst hatte noch immer nur seinen jungen Zellengenossen im Blick. Doch mit einem Ohr folgte er tatsächlich dem Mann, der da berichtete. Wenn man die Wahrheit kennen würde, wie viele der sogenannten feinen Familien seine Dienste bereits in Anspruch genommen hatten, es würde eine alles verändernde Rebellion auslösen. Oh, er hatte unzählige Kunden aus allen Schichten der Gesellschaft. Doch die feinen Familien hatten mitunter die niedersten Beweggründe, jemanden aus dem Weg geräumt zu bekommen. Am Anfang hatte der damals Mitzwanzigjährige nicht fassen können, wie Machtgeil und hintertrieben diese Menschen sein konnten. Eine Zeitlang war die Ungläubigkeit Abscheu gewichen. Inzwischen jedoch hatte sich Pragmatismus eingestellt.

“Ja …Und … man hat ihn auch wegen eines blutigen Mordes vor vielen Jahren verurteilt.“, stimmte ein weiterer Gefangener ein. "Ich stamme aus Trithên, aber selbst wir hörten vom bestialischen Vatermord von Kelekuna … Auch wenn sie es nicht eindeutig beweisen konnten, haben sie den da dennoch für rangezogen …“ Der Mann zuckte mit den Schultern. “Die Marine kann das halt. Hauptsache ein Steckbrief weniger.“
Na das hatte ja flott die Runde gemacht. Gefangene waren doch wahrlich meisterliche Waschweiber. Yaris verdrehte die Augen und widmete sich wieder der Deckenmusterung. Aus dem untersten Augenwinkel behielt er den Mann ihm Gegenüber im Blick, um eine etwaige Reaktion vor allem auf die letzte Information zu erkennen. Doch mit keiner Faser ließ er nach Außen erkennen, ob etwas Wahres an diesen Aussagen war oder nicht. Sollten die glauben, was sie wollten. Nein, Geschichten machten keinen Mann aus. Sie Malten ein verfälschtes Bild. In einigen Fällen beschönigten sie Dinge, in anderen malten sie die schlimmsten Vermutungen. Die Wahrheit sah meist ganz anders. In Yaris‘ Fall noch viel viel schlimmer. Doch das würde er keinem je unter die Nase reiben, hier drinnen schon mal gar nicht.
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