Inselwelten

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We all get lost sometimes

Nachmittag des 26. Juni 1822
Jón Nóason & Shanaya Árashi

Eine ganze Weile hatte Shanaya sich mit ihren Unterlagen befasst, hatte Striche von Inseln nachgezogen, Berechnungen verglichen und korrigiert, hatte geordnet und sortiert, bis die Müdigkeit ihre Konzentration kostete. Und erst, als all das erledigt und ihre Unterlagen wieder sicher verstaut waren, gönnte sich die junge Frau eine Pause. Ihr war mehr danach, sich hinzulegen, irgendwie versuchen zu schlafen. Aber es hatte die letzten Tage nicht wirklich funktioniert, also konnte sie auch ihre ersten Schritte auf die Insel genießen und es heute Abend noch einmal versuchen.
Jetzt schlurfte sie also mit müdem Blick zwischen den Ständen hindurch, ließ den hellen Blick schweifen, ohne auf den ersten Blick etwas zu erkennen, was ihr Interesse weckte. Bis zu dem Stand, an dem haufenweise Papier lag, Stifte, Kohle… und wenn Shanaya genauer darüber nachdachte, brauchte sie wirklich einen neuen Vorrat. Schnell kam sie also mit dem Verkäufer ins Gespräch, der ihr einiges empfehlen konnte, sodass sich auf der Seite der Schwarzhaarigen ein kleiner Stapel bildete, von dem sie noch nicht einmal wusste, wie sie ihn allein zur Sphinx schleppen sollte. Aber an erster Stelle war sie froh, sich von diesem zehrenden Gefühl der Müdigkeit ablenken zu können.
Weder sie noch der Verkäufer bemerkten jedoch den Mann, der sich hinter die junge Frau gestellt hatte, scheinbar interessiert dem Gespräch von Kundin und Verkäufer lauschte, sich jedoch mit einer Hand an der Tasche der Schwarzhaarigen zu schaffen machen wollte.
Jón hatte sich schon vorgestellt, wie er ganz pathetisch und dramatisch den Boden küssen würde, sobald er ihn berührte -- aber so sehr überkam ihn das Verlangen danach dann doch nicht, als es tatsächlich so weit war. Dennoch. Er hatte noch nie solange am Stück keinen festen Boden unter den Füßen gehabt. Zum einen also, überkam ihn dieses Verlangen nicht, weil er das Gefühl hatte, er schwankte wie ein Betrunkener. Zum anderen hatte er den Boden wohl küssenswerter in Erinnerung gehabt. Er sah kurz zurück über seine Schulter, auf die Sphinx. Er fühlte sich schlecht, dass er Rúnar dort zurückließ. Er hatte ihn gefragt, ob er mitkommen wolle und während es für Rúnar nicht ungewöhnlich war, dass er einfach mal herumsaß und gefühlt nichts tat, hatte die Art mit der Rúnar Jóns Angebot ausgeschlagen hatte sehr ungewöhnlich gewirkt. Er kam dabei nicht um den Gedanken hin, dass Rúnar sich in dem Jahr auf See einfach verändert haben könnte. Aber als sie in der Zwischenzeit miteinander gesprochen hatten, hatte es nicht so gewirkt. Alles war so gewesen wie immer. Zumindest zwischen ihnen beiden. Im Großen und Ganzen war nichts wie immer. Und natürlich hatte Rúnar sich verändert. Jón hatte sich sicherlich auch verändert. Er sah noch ein weiteres Mal über die Schulter zur Sphinx, als er sich von ihr entfernte. Diesmal, weil er vielleicht ein wenig fürchtete, dass sie weg sein würden, wenn er wieder kam. Aber er brauchte dies gerade. Er musste festen Boden unter seinen Füßen haben. Er musste mehr Gesichter sehen, als dieselben fünfzehn Stück jeden Tag, er musste was anderes sehen als Holz und Taue und Segel und Wellen und Wellen und Wellen.

Er hatte Shanaya ebenfalls vom Schiff und in Richtung Zivilisation gehen sehen, aber seit ihrer seltsamen Unterhaltung die Woche zuvor, hatte er versucht ihr aus dem Weg zu gehen -- sie eher von Weitem beobachtet. Ihm war dabei aufgegangen, dass sie wohl einen seltsamen Moment gehabt hatte. Was er ihr und auch niemand anderem verübeln konnte. Dennoch war er sich sicher, dass da etwas im Argen war und damit konnte und wollte er sich nicht beschäftigen oder konfrontieren, solange er sich nicht sicher war, ob Shanaya diese Sache selbst unter Kontrolle hatte. Er fühlte sich zwar nicht besonders gut dabei, einen weiten Bogen zu schlagen, als er sie an einem der Stände sah, zwischen denen er selbst gerade herumgeschlendert war -- doch das Gefühl wurde ganz schnell durch ein ganz anderes ausgetauscht. Jón hielt inne. Irgendein Kerl bekam gerade lange Finger und streckte diese zu Shanayas Tasche aus. Ohne groß nachzudenken, schloss Jón mit ein paar Schritten die Distanz zwischen sich und dem Taschendieb und presste ihm die Kante seiner Hand in die Seite -- sollte der sich selbst ausmalen, womit er gerade bedroht wurde. "Das würde ich an deiner Stelle bleiben lassen."


Shanaya war einfach zu müde, ihre sonst vorherrschende Aufmerksamkeit war getrübt, doppelt abgelenkt durch die Ware, die vor ihr ausgelegt waren. Der Verkäufer selbst folgte dem Deuten ihrer Finger, beantwortete jede Frage mit gemütlicher Gelassenheit und blickte zwischendurch nicht einmal auf. Zwar waren der jungen Frau einige Schritte hinter sich bewusst, sie ordnete diese jedoch den Menschen zu, die an ihr vorbei traten, zu den Ständen oder nach Hause eilten. Erst, als eine Stimme hinter ihr erklang, die sie dunkel einem Gesicht zuordnen konnte, schreckte die Schwarzhaarige hoch. Sofort richtete sie den Kopf herum, konnte gerade noch erkennen, wie der Fremde die Hand zurück zog und einen Schritt zur Seite machte. Shanaya selbst drehte sich in die Richtung des Mannes, der nun mit unschuldig erhobenen Händen da stand und langsam zurück wich. Einen Moment brauchte die Schwarzhaarige, um Jón zu erkennen, bevor ihre Hand sich auf den Heft ihres Degens legte und sie den vermeintlichen Dieb mit fester Miene betrachtete. Dieser schaute zwischen den Beiden hin und her, zog sich dann aber in Anbetracht einer Waffe schnell in eine der Gassen zurück. Erst, als er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, ließ die junge Frau die Hand sinken, atmete tief durch und richtete den Blick erst auf den überraschten Verkäufer, dann auf den Neuzugang der Crew. „Ich bin dir jetzt wohl ein Danke schuldig.“ Das Lächeln auf ihren Lippen war echt, die Müdigkeit darin war jedoch nicht schwer zu übersehen. Noch einmal nahm die Schwarzhaarige einen tiefen Atemzug. „Wie gut, dass die meisten den Schwanz einziehen, wenn sie erwischt werden.“

Shanaya reagierte schnell, Jóns Blick huschte zu ihrer Hand, die sich auf ihren Degen legte. Dann zu dem Dieb, der hektisch zwischen ihnen beiden hin und her sah. "Schleich dich", murmelte Jón, aber das hatte der Dieb vermutlich gar nicht mehr richtig gehört, denn er gab schon Fersengeld, bevor Jón es ganz ausgesprochen hatte. Und eine Waffe konnte er sich auch einmal zulegen. War bestimmt nicht verkehrt, auf einem Piratenschiff -- als Pirat. Wobei es wohl nicht so schlau gewesen wäre, mitten auf dem Markt eine Waffe zu ziehen. Der Verkäufer sah auch so schon beunruhigt genug aus. Jón gab ihm ein kurzes Lächeln, um zu bedeuten, dass alles in Ordnung war. Shanaya entspannte sich sichtlich. "Nichts zu danken", sagte Jón und erwiderte ihr Lächeln. Er nickte auf ihre nächste Aussage hin, fügte hinzu: "Hast du noch alles?" Er war sich sicher, gesehen zu haben, dass der Dieb nicht besonders weit gekommen war, aber man konnte ja -- wenn auch aus Höflichkeit -- trotzdem nachfragen.

Ganz automatisch prüfte Shanaya noch einmal die Umgebung, so etwas sollte ihr nur ein einziges Mal passieren. Und der Typ sollte es nicht wagen, zurück zu kommen. Für eine Verfolgung fühlte sie sich ausnahmweise nicht in der Lage, ließ den blauen Blick damit wieder zurück zu dem Dunkelhaarigen gleiten. Sie blinzelte bei seinen Worten, begann dann ruhig in ihrer Tasche zu kramen. Zuerst suchte ihr Blick nach dem Kompass, dann nach anderen Dingen, die sie mit sich herum trug. Noch einige Momente, ehe die junge Frau nickte. „Er wurde wohl im richtigen Moment vertrieben, alles noch da.“ Kurz richtete sie den Blick zu dem Stand, an dem sie noch stand, setzte dann eine fragende Miene in Jóns Richtung auf. „Wie sieht es mit deinem Hunger aus? Als Dank sollte ich dich wenigstens einmal zum Essen einladen.“

Jón nickte und lächelte, einmal kurz, wie: Meine Arbeit hier ist getan. Doch er nahm Shanayas darauffolgenden Blick wahr und musste einen kleinen Anflug von Überraschung darüber verbergen, dass sie sich revanchieren wollte. "Wirklich nichts zu danken", sagte er und es klang ehrlich und höflich, auch, wenn er sich in Wahrheit einfach nicht vorstellen konnte, dass er und Shanaya sich irgendwas zu sagen hatten und es deshalb vielleicht besser vermieden, Zeit zu zweit zu verbringen. Doch es wäre andererseits auch unhöflich, es auszuschlagen. Zumal Shanaya anscheinend keine böswilligen -- oder einfach nur seltsamen -- Hintergedanken dabei hatte. "Aber zu einer Einladung sage ich nicht nein", fügte er hinzu und gab ihr ein weiteres Lächeln. Sah sich kurz um und entdeckte ein paar Essensstände, die frische Gerichte verkauften. Er überließ es jedoch Shanaya, was sie essen wollten. Eigentlich wurde er auch in einer Art erzogen, die es voraussetzte, dass er einer Dame anzubieten hatte, sie zum Essen einzuladen -- aber er war sich sicher, dass das hier nicht mehr galt. Nicht bei Shanaya -- die würde ihn dafür vermutlich treten wollen -- und nicht auf der Sphinx. Und das gefiel Jón.

Man konnte von Shanaya halten, was man wollte – aber ein undankbares Ding war sie bei Weitem nicht. Jón hatte ihr geholfen, und sie stand absolut nicht gern in irgendjemandes Schuld. Hier ging es nicht um Leben oder Tod – wie in manch anderen Situationen, in denen sie sich befunden hatte – aber auch bei solch einer Kleinigkeit war es der Schwarzhaarigen wichtig. Der Dunkelhaarige nahm die Einladung ihrerseits an und Shanaya legte mit einem müden Lächeln den Kopf ein wenig zur Seite. „Jemand muss mich doch beschützen, wenn der Dieb zurück kommt.“ Das Lächeln blieb, ihr Blick wurde einen Hauch unschuldiger. In ihrer Stimme schwang jedoch ein Ton mit, der dem Mann klar machen würde, wie ernst sie diese Worte meinte. Vermutlich hätte Jón den vermeintlichen Dieb vor Shanaya retten müssen. Egal, wie müde und erschöpft sie war, so etwas ließ sie nicht durchgehen. Kurz huschte der blaue Blick noch einmal zu dem Stand, zu dem Verkäufer, mit einem Blick, der ihm verriet, dass sie garantiert noch einmal zurück kommen würde. Dann richtete sie sich zu Jón herum, musterte den Dunkelhaarigen und wandte sich dann ab, in die Richtung der Stände, die mit verschiedenen Düften lockten. Sie strich sich durch die schwarzen Haare, ließ den Blick dabei von Stand zu Stand gleiten. „Kennst du dich mit der Seefahrt aus oder sind wir die… zweite Crew, der du dich angeschlossen hast?“

"Ach ja?" Jón schnaubte ein Lachen welches einerseits etwas verlegen und andererseits etwas befremdet war. "Ich hätte dich eher so eingeschätzt, dass du dich ganz gut selbst beschützen kannst. Aber wenn du dich damit sicherer fühlst, dann halte ich natürlich die Augen offen", sagte er so neutral wie möglich. Er wollte vermeiden, dass er zu flirten begann. Shanaya warf dem Verkäufer einen Blick zu und Jón tat es ihr gleich, dann folgte er Shanaya. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Abermals ein wenig überrascht. Aber das bestätigte ihm wieder, wie sprunghaft er sie eingeschätzt hatte. Oder einfach allgemein Schwierigkeiten hatte, sie wirklich einzuschätzen. Wo ihre erste Aussage ihm noch ein wenig unangenehm war, schien ihre zweite einfach der Beginn eines ganz normalen Gesprächs zu sein. "Zugegebenermaßen wäre es von Vorteil, wenn ich mich besser auskennen würde, da ich mich euch jetzt wohl tatsächlich angeschlossen habe. Davor hatte ich nur Mitfahrgelegenheiten." Er hielt kurz inne um Nachzuzählen. "Drei Stück müssten es gewesen sein. Und du? Weißt ja augenscheinlich was du tust, Frau Navigatorin. Wie kommt's?" Vielleicht war es nur ihre Art, aber sie wirkte ziemlich jung.

Shanaya hob leicht eine Augenbraue, warf dem Mann einen prüfenden Blick zu. Ein abschätzendes Brummen folgte, trotzdem ein ruhiges Lächeln. „Du musst noch viel über mich lernen.“ Gut, da konnte sie wohl niemandem einen Vorwurf machen, sie wirklich zu kennen bedurfte schon, dass man sich mit ihr auseinander setzte und das schaffte nur ein Bruchteil, was jedoch auch so von ihr gewollt war. Fakt war, sie brauchte niemanden, der sie beschützte. „Was hat dich bisher daran gehindert, dir Wissen anzueignen?“ Eine ernst gemeinte Frage, wenn sie die vierte Crew waren, mit der er segelte… „Oder darf man ‚Mitfahrgelegenheit‘ so deuten, dass die Seefahrt nie dein Plan war?“ Seine Frage ließ sie kurz nachdenken, ehe sie in ruhigem Ton fortfuhr. „Das ist die erste Crew, mit der ich aus freien Stücken segele, sagen wir es so… Aber für mich war schon immer klar, wohin mein Weg führen würde, von daher...“ Ihre Stimme hatte einen sanften Ton angenommen, der immer darin mitschwang, wenn sie von dem schwärmte, was sie liebte. „Ich habe schon als kleines Mädchen haufenweise Karten gezeichnet. Hat sicherlich niemanden gewundert, wo ich jetzt gelandet bin.“

Jón nickte. Da war er sich aber sowas von sicher, dass er noch viel über sie lernen musste. Er wägte kurz ab, ob er das überhaupt wollte, ob er sich die Mühe machen sollte -- andererseits würde das wohl ohnehin passieren, wenn sie zusammen reisten. Dauerhaft. Nun ja, sonderlich viel Mühe musste er sich anscheinend nicht geben, denn das hier lief ja gerade auch wie von selbst. Trotzdem schaffte er es einfach nicht, das unangenehme Gefühl abzuschütteln, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Jón zuckte die Schultern. "Andere Dinge haben mich mehr interessiert." Das stimmte. Grund dafür war nicht zuletzt, dass sein Vater immer geplant hatte, dass Jón sich darauf vorbereitete, eines Tages sowas wie sein Onkel und später sein Cousin zu machen. Und Jón hatte wie aus Trotz eine Abneigung dagegen entwickelt. Nicht, dass er sich dagegen gewehrt hatte, aber er hatte nur das nötigste gemacht, wenn sein Vater darauf bestanden hatte, dass er mit den anderen zum Fischen hinausfuhr. "Und richtig, ich hatte nicht geplant zum Segler zu werden. Nur zum Reisenden, sozusagen." Auch, wenn das ebenso wenig geplant war. Jón nickte, als er Shanaya zuhörte. Niemanden gewundert. "Und da bist du dir sicher? Haben dich alle schon immer als Piratin gesehen?", scherzte er -- und dachte sofort, er sollte vielleicht lieber nicht mit Shanaya scherzen, da ihrer beider Humor offensichtlich nicht verträglich miteinander war.

Gut, dass er nicht wirklich vor gehabt hatte, Seefahrer zu werden war ein Argument. Sie selbst hätte sich damit wohl nicht befasst, wäre das nicht ihr Plan gewesen. „Punkt für dich, du hast Glück gehabt.“ Ein vielsagender Blick galt Jón. „Dann hoffe ich, dass sich das jetzt ändern wird? Zumindest wenn du wirklich vor hast, mit uns zu segeln.“ Jemanden, der sich nicht mit dem befasste, was ihr täglich Brot war, konnten sie in der Crew nicht gebrauchen. Was auch immer ihn zum Bleiben bewegte. Die nächste Frage des Mannes ließ Shanaya kurz auflachen, ohne Verbitterung darin. „So könnte man es irgendwie sagen… ich habe aber auch kein Geheimnis daraus gemacht.“ Und ohne, dass sie sich dagegen wehren konnte, sah Shanaya ihre Eltern vor sich. Ihre Mutter, die in Hysterie ausgebrochen war, weil ihre Tochter Piratin werden wollte. Ihr Vater, der ihr dafür seine Schläger auf den Hals gehetzt hatte. Und Bláyron, der ihr gesagt hatte, sie würde keine Woche als Piratin überleben, nachdem er sie selbst zu Boden geprügelt hatte. „Ich habe mich aber auch nicht wirklich umstimmen lassen. Egal, wie sehr es versucht wurde.“ Aus dem Nichts blieb die Schwarzhaarige stehen, wandte den Blick an Jón vorbei und betrachtete den Stand hinter ihm, an dem Brot mit verschiedenen Füllungen angeboten wurde. „Ich hoffe, du hast viel Hunger mitgebracht.“ Sie nicht unbedingt, zumindest nicht so groß wie sonst, wenn sie genau in sich hinein lauschte. Trotz des Gesprächs vergaß sie nicht die Erschöpfung in den Knochen.

"Glück gehabt, bei was?" fragte er und er hielt ihrem Blick stand, als sie ihm einen entsprechenden gab. "Ich werde mein bestes geben", fügte er mit einem Lächeln hinzu. Er war ja nicht dumm. Nur unerfahren. Eigentlich war er fast überall unerfahren. Er hatte viel Wissen angesammelt, in allen möglichen Bereichen, es aber selten anwenden können -- was in vielen Fällen auch besser so war. Kein Geheimnis draus gemacht? Jón hob die Augenbrauen und gab ihr einen Blick wie: Wirklich jetzt?! Als sein Ausdruck sich wieder etwas neutralisiert hatte, fragte er: "Wie kommt's? Uns wurde früher genug eingeflößt, dass Piraten die schlimmsten sind. Später wurde ich auch eines besseren belehrt, aber ..." Später, als er gelernt hatte die richtigen Bücher und Zeitungen für die richtigen Informationen zu lesen und kritisch zu denken. Jón lief regelrecht das Wasser im Mund zusammen als er das Essen sah. "Habe ich." Und eine gehörige Menge Appetit, nachdem die Kombüse nicht sonderlich viel Variation bot. Nicht, dass er sich beschwerte, aber dafür wusste er das Essen an Land nun umso mehr zu schätzen. Mit einer Handbewegung bedeutet er Shanaya, dass sie zuerst aussuchen sollte.

„Dass du eine für mich richtige Antwort gegeben hast.“ Shanaya wog den Kopf kurz zur Seite, warf Jón dabei einen weiteren, vielsagenden Blick zu. „Und das hoffe ich doch, alles andere würde vermutlich dafür sorgen, dass du nicht lang Teil der Crew bist.“ Ihr konnte es egal sein, aber für ihn… Auch wenn er im ersten Moment auf seine überraschten Worte keine Antwort bekam, Shanaya war doch vom Essen abgelenkt, verriet ihr Blick ihm, dass er diese Antwort bekommen würde. Zumindest in ihrem Maße, gewiss nicht jedes Detail. Jetzt ruhte ihr blauer Blick jedoch auf dem Verkäufer, der ihnen freundlich entgegen lächelte. Shanaya kramte in ihrem Beutel, hielt dem Mann das Geld entgegen. „Eins mit… allem.“ Der Fremde hob eine Augenbraue, nahm das Geld entgegen und richtete die Augen schließlich auf Jón, um seine Bestellung entgegen zu nehmen. Die Schwarzhaarige wartete noch, bis sie beide ihr Brot hatten und setzte nun zu einer Antwort an, über die sie nicht lange nachgedacht hatte. „Ich war schon immer eher von… rebellischer Natur. Da liegt es nur nahe, dass ich der ganzen Welt meinen Plan offen lege, kriminell zu werden, oder nicht?“ Jetzt ein wenig munterer biss die junge Frau von ihrem Brot ab, kaute darauf herum und sprach weiter, sobald sie geschluckt hatte. „Und wie du siehst, hat auch niemand wirklich etwas dagegen unternehmen können.“

"Mh", machte Jón. "Was wäre denn die falsche gewesen?" Ihren darauffolgenden Blick nahm Jón auch diesmal wahr. Vielleicht kam es ihm nur so vor, aber stichelte sie etwa schon wieder? Er achtete jedoch nicht weiter auf eine Reaktion, weil er sich ebenfalls dem Verkäufer zuwandte. "Eins davon." Er zeigte auf eins der Brote das aussah als sei es mit Oliven und etwas wie Schafskäse gefüllt, mit Kräutern in die Kruste eingebacken. "Danke für die Einladung", sagte er Shanaya, bevor er einen Bissen von dem Brot nahm und für einen Moment genüsslich die Augen schloss. "Und es hat keiner was dagegen unternommen?", hakte er weiter nach.

Shanaya wog bei der Frage ihres Gegenübers den Kopf mit einem sachten Lächeln zur Seite. „Das verrate ich nicht, aber der Versuch war gut.“ Ein Magier verriet ja immerhin auch nicht einfach seine Tricks. Auf den Dank des Mannes hin nickte die junge Frau mit einem ruhigen Lächeln, das war für sie das Mindeste. Wer wusste schon, was ihr sonst nun fehlen würde? Die nächste Farge seinerseits ließ sie dann den Kopf schütteln. „Wie schon gesagt, sie haben es versucht, aber… ich war einfach schon immer ein viel zu großer Dickkopf.“ Amüsiert drein blickend biss Shanaya von ihrem Brot ab, überlegte kauend, ehe sie weiter sprach. „Aber glücklich waren sie damit nicht, da hast du Recht.“

Jón behielt den Seufzer für sich, sein tiefes Einatmen das einzige Anzeichen dafür, was es einmal hatte werden sollen. Er war abermals frustriert von dieser Frau. Er konnte sich dabei selbst auf die Finger hauen -- ihm war es auch lieber wenn Leute so wenig wie möglich über sein Innenleben erfuhren. Oder irgendwas das darauf zurückzuführen war. Aber normal hatte er auch keinen Anlass , dies in Frage zu stellen, denn es war ein Leichtes für ihn, andere Menschen zu lesen -- nur bei Shanaya nicht. Es war an sich zwar nicht schwer sie zu lesen, aber es war bei ihr, wie in einem Buch zu lesen, das von etlichen Autoren geschrieben worden war, die sich zwar absprachen -- aber nicht lasen was der andere schrieb.
Er biss als Übersprungshandlung von seinem Brot ab, aber nahm sich diesmal nicht so viel Zeit den Bissen zu genießen, ehe er sich kurz über den Mund wischte und dann weitersprach: "Nun ja, wundert dich das? Ich denke, keiner ist glücklich, wenn"-- hm, ... ja, wer waren "sie" eigentlich, die Shanaya erwähnt hatte? --"ein Familienmitglied?"-- zog er seine Schlüsse --"sich dazu entscheidet, zum Gesetzlosen zu werden?"


Shanaya biss noch einmal von ihrem Brot ab, machte sich keine Gedanken darüber, was dem Mann durch den Kopf ging. Auch wenn sie die Antwort darauf sicher sehr amüsiert hätte. Auch sein angedeutetes Seufzen nahm die junge Frau nicht wirklich wahr. Sie hing einfach viel zu sehr eigenen Gedanken nach. Ohne sie greifen zu können.
„Das wundert mich absolut nicht – genauso wenig hat es sie gewundert, dass ich diesen Weg eingeschlagen bin.“ Also… zumindest würden sie dennoch so tun. Offiziell war sie ja auch wahrscheinlich immernoch entführt. „Und ja, es geht um meine Familie. Ihr kleines, schwarzes Schaf hat den dunklen Pfad für sich gewählt.“ Dramatik lag in ihrer Stimme, auch wenn Jón ein müdes Grinsen galt. „Aber immerhin darf ich so immer Mal wieder Steckbriefe von mir an irgendwelchen Wänden hängen sehen. Mal sehen, wie lange es dauert, bis der erste meint, mich gefunden zu haben und mich fortbringen will.“


Mal sehen bis der erste Steckbrief von ihm irgendwo rumhängen würde. Sei es, weil seine Familie nach ihm suchte, vielleicht dachte, ihm sei was zugestoßen. Oder sei es, weil durch irgendeine im besten Fall semi-legale Aktivität das Gesetz nach ihm suchte. Piraten ... Dann wiederum passte er wohl ganz gut zu ihnen. "Ah ja", sagte er nonchalant. "Mit schwarzen Schafen kenne ich mich auch aus." Er warf Shanaya einen Blick zu um ihr damit zu bedeuten, dass er sich selbst meinte. Und dass er Verständnis für sowas hatte. Selbst bei jemandem wie ... ihr? Aber wer war sie überhaupt? Irgendwann würde er vielleicht schlau aus ihr werden. Immerhin hatten sie nun schon etwas Grundlegendes gemeinsam. Wäre ein Anfang.

Shanaya warf dem Mann neben sich einen ruhigen Blick zu, musste über seine Wortwahl ein wenig schmunzeln. Sie nickte verstehend, richtete den Blick dann wieder nach vorn. „Vermutlich muss das bei einer Piratencrew so sein… die wenigsten, gut behüteten Schäfchen entscheiden sich für ein Leben als Kriminelle.“ Zumindest hatten sie alle ihre Geschichten, ihre Geheimnisse, die sie mit sich herum trugen. Sie waren Shanaya nicht wichtig, manches ging sie auch einfach nichts an. Genau wie Teile ihrer Geschichte niemand anderen etwas angingen. „Hast du dich deswegen entschieden, mit uns zu segeln?“ Immerhin hätte er auch mit den anderen versuchen können, irgendwie aus diesem Nebel heraus zu kommen.

Jón musste nicht lange darüber sinnieren, dass er in den Augen anderer als behütetes Schäfchen zählen würde. Aber einerseits gehörte er wohl zu diesen wenigsten, die Shanaya genannt hatte. Andererseits waren die Gründe, aus denen er sich zu diesem Leben entschieden hatte genau so komplex wie die Gründe, warum er kein behütetes Schäfchen war, auch, wenn es so wirken mochte, wenn andere wüssten aus welchem Leben er käme. "Hm." Es kam darauf an, was genau sie meinte. "Ich hab mich entschieden mit euch zu segeln, weil Rúnar bei euch ist."