Inselwelten

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It's like a shadow we can't see
Abend des 17. Juni 1822
Shanaya Árashi & Talin Dravean

Sie hasste es. Dieses verdammte Versprechen. Und jetzt musste sie schon wieder auf dem Trockenen sitzen. Mit dieser Schulter würde jemand sie sicher nicht einmal an das Steuer lassen. Schon wieder! Sie spürte Luciens vorwurfsvollen Blick fast schon auf sich ruhen, selbst wenn ein Arm völlig gesund war. Ganz automatisch hob Shanaya den Arm, der in einer Schlinge lag, etwas an. Die Folge war ein leises, zischendes Geräusch. Nein, gut, das tat wirklich zu weh. Und je mehr sie sich jetzt schonen würde, desto schneller konnte sie wieder ihre Aufgaben übernehmen. Immerhin war es dieses Mal nicht ihr Bein und sie konnte frei herum laufen. Ohne, dass Fieber ihren gesamten Körper schwächte.
Trotzdem hatte sie nicht viel von dem fremden Schiff gesehen. Die Gefahr der Vögel und der Nebel lagen hinter ihnen, Ruhe kehrte auf der Sphinx ein. Stand noch jemand am Steuer? Shanaya wollte eigentlich nicht darüber nachdenken. Statt dessen folgte sie ihrem Weg, auch wenn dieser sie an keinen besonderen Ort bringen sollte. Sie war müde, hatte Schmerzen und das Trockenfleisch, auf dem sie gerade herum kaute, stillte auch nicht den Hunger, den sie nun eine ganze Weile für ein Abenteuer unterdrückt hatte. Ein Abenteuer, das dann größtenteils an ihr vorbei gegangen war. Nach ihrer ‚Behandlung‘ war sie zwar an Deck gegangen, wirklich viel war jedoch nicht mehr passiert. Und weil sie sonst nur in Versuchung gekommen wäre, irgendetwas zu tun und dann unter Deck getreten zu werden, hatte sie sich selbst lieber dorthin bewegt.
Sie wusste, dass zwei (oder drei? War ja auch egal) zu ihnen auf die Sphinx gekommen waren, noch interessierte sie sich jedoch nicht unbedingt dafür. Ihre Gedanken waren zu aufgewühlt, ihr Kopf überall und nirgendwo. Trotz der Müdigkeit hatte sie zu viel Energie – wusste dafür nicht, wie sie diese loswerden sollte.
Schließlich fasste die Schwarzhaarige einen Entschluss, hielt kurz in ihrem steten Herumwandern inne und atmete einmal tief durch. Ihre Schulter dankte ihr mit einem scharfen Stechen, bei dem sich die Schwarzhaarige sofort etwas verkrampfte. Wie lange dauerte es wohl, bis dieses Stechen nachließ? Mit der gesunden Hand fuhr die junge Frau sich durch die Haare, schüttelte kurz den Kopf und setzte sich dann wieder in Bewegung. Direkt auf die Treppe zu, die sie an Deck führen würde, in einen Sonnenuntergang oder in eine Dunkelheit, die die Sphinx bereits umgab.
Es waren nur wenige Schritte, als sie abrupt wieder zum Stehen kam, sogar einen Schritt zurück wich, erschrocken aufblickte. Talin stand direkt vor ihr, auf der letzten Stufe der Treppe, die Shanaya gerade erklimmen wollte.

„Himmel, musst du dich so anschleichen?“

Ein schnaufendes Lachen drang Shanaya über die Lippen, trotzdem galt der Blonden ein sanftes, wenn auch etwas gehetzt wirkendes, Lächeln.
In ihrem Kopf drehte sich alles. Ihre Gedanken schweiften von den Erlebnissen des gestrigen Tages, zu ihrer Entdeckung, die sie noch Lucien mitteilen musste, sollte das nicht schon jemand anderer gemacht haben, hinzu zu einer Bestandsaufnahme des Schiffes. Denn obwohl es wie ein Witz von irgendwelchen Göttern klang, war die Sphinx, schon wieder beschädigt. Natürlich sah sie nicht so schlimm aus, wie vor ihrem Besuch in Silvestre, aber auch nicht mehr so gut, wie nach der Reparatur. Das Eisen hatte Rost angesetzt, was nicht hätte gehen sollen, die Waffen ebenso, was nicht hätte gehen sollen. Und dann waren da noch die Verletzten gewesen, denen Wunden weh getan hatten, die nicht auf diese Art und Weise hätten weh tun sollen. Talin dachte immer noch daran, dass dieser Nebel ein Geheimnis war, vor dem man sich in Acht nehmen sollte und sie war nur all zu erleichtert darüber, dass sie ihn hinter sich gelassen hatten. Obwohl ein Teil von ihr gern mehr darüber in Erfahrungen bringen wollte, um ihre Neugierde zu stillen. Stattdessen musste sie sich aber mit dieser Bestandsaufnahme auseinandersetzen. Lästig.
Mit einem Schnauben schloss sie für einen Augenblick die Augen, bevor sie sich von der Reling abstieß und die Treppen hinunter aufs Hauptdeck nahm, um dann nach unten zu verschwinden. In ihrem Kopf erstellte sie eine Liste, was sie benötigte, um eine neue Liste, diesmal aufgeschrieben, zuschreiben. Doch kaum wollte sie nach unten gehen, kam ihr auch schon jemand entgegen. Talin hielt inne und eine ihrer Augenbrauen wanderte in die Höhe, während sie Shanaya ansah, die sie mit einem gehetzten Blick begrüßte. Ihr Blick schweifte in der Dunkelheit für einen Moment über das andere Mädchen, bevor sie schließlich seufzte, der Dunkelhaarigen entgegenkam, ihre Hand nahm und mit einem befehlenden „Komm mit“ nach oben zog. Sie führte sie zu einer Laterne und begutachtete die Jüngere für einen Moment, bevor sie Shanayas Hand losließ und stattdessen ihre Stirn befühlte.

Gut, du hast kein Fieber. Wie geht es deiner Schulter? Tut sie weh? Brauchst du etwas gegen die Schmerzen?“ Sie zögerte, bevor sie schließlich doch sanft lächelte. „Oder eher etwas gegen die Langeweile?
Einen Moment lang schien auch Talin überrascht zu sein, zumindest glaubte Shanaya das auf ihren Zügen erkennen zu können. Alles andere ging dann einen Hauch zu schnell für Shanayas aufgewühlten Geist. Sie wurde gepackt, stolperte einen Schritt und folgte der Blonden dann mit verwirrter Miene. Ihre Freundin sagte etwas, Shanaya erwiderte nur ein leises „Was bleibt mir anderes übrig?“ folgte ihr jedoch ohne großen Widerstand. Erst bei einer Laterne kamen sie zum Stehen und im nächsten Moment war ihre Hand frei gegeben – dafür wurde ihre Stirn betatscht. Sie blinzelte, ließ das alles über sich ergehen und kam doch nicht ganz so schnell hinterher.
Talin fragte irgendwie zu viele Dinge auf einmal, sodass Shanaya leicht eine Hand anhob, sie etwas zur Ruhe bringen wollte. Sie hatte kein Fieber – Gott sei Dank. Noch einmal das Bett hüten, bis ihr Körper gesiegt hatte, klang in ihren Ohren gerade nicht sonderlich verlockend.

„Es geht schon, danke.“

Shanaya lächelte zwar, eine ehrliche Miene, die trotzdem Verwirrung ausdrückte.

„Dieser Überfall hat auf jeden Fall einen Moment gegen Langeweile gewirkt. Aber ich denke, die richtige Langeweile wird erst kommen, wenn mein Körper versteht, dass er gerade Mal wieder zur Ruhe gezwungen wird.“

Ihr Blick wurde ein wenig weicher.

„Du bist also sehr willkommen als Ablenkung von meinen Pflichten und Aufgaben!“
Bei der Verwirrung, die sie in Shanayas Blick ausmachen konnte, musste Talin sich ein Lachen verkneifen. Sie wusste selbst, dass sie das andere Mädchen gerade überfallen hatte, aber für gewöhnlich wäre die Schwarzhaarige nicht so perplex gewesen. Und genau aus diesem Grund, war dieser Gesichtsausdruck der anderen auch Gold wert. Schlussendlich musste Talin aber doch lachen und sei es nur aufgrund der Worte der anderen. Die Blonde verstand vollkommen, wie langweilig und nervtötend öde Verletzungen sein konnten, wenn man so viel besseres zu tun hatte, als sich auszuruhen. Und Shanaya hatte in letzter Zeit wirklich viel Ruhe gebraucht. Es schien nicht so gar nicht zu ihrem Charakter zu passen, weshalb sie wahrscheinlich auch länger zum Heilen gebraucht hatte. Ein Schmunzeln blieb auf Talins Lippen, als sie die Hand von Shanayas Stirn nach oben wandern ließ und dem anderen Mädchen eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr schob. „Ich bin gerne eine Ablenkung, damit wir unsere Navigatorin so schnell wie möglich wieder zurückhaben. Was kann ich also für dich tun? Sollen wir uns aufs Hauptdeck stellen und schauen, ob wir noch mal Nebel finden?“ Gut, die Anspielung war vielleicht ein bisschen gemein, aber immerhin wäre das doch etwas gegen Langeweile oder?

Shanaya verzog bei dem Lachen der Blonden ein wenig die Miene, jedoch nicht ernsthaft verstimmt. Sie konnte mit Witzen auf ihre Kosten leben – und dass sie Mal wieder in einer eingeschränkten Situation steckte… nun ja. Immerhin konnte sie herum laufen und musste nicht an eine Liege gekettet werden, damit sie zur Ruhe kam. Sie schnaufte also nur leise, ihrerseits jedoch ein sachtes Lächeln auf den Lippen. Als Talin ihr eine Strähne hinter das Ohr strich, wog Shanaya den Kopf etwas zur Seite, hob dann leicht eine Augenbraue, als die Blonde weiter sprach. „Und dann? Bekämpfen wir ihn mit drei Armen?“ Shanaya lachte, zuckte dann ruhig mit der gesunden Schulter. „Frische Luft klingt aber auf jeden Fall nach einer guten Idee. Vielleicht haben wir ja Glück und kein Vogelvieh versucht uns auf den Grund des Meeres zu befördernd...“

Sie unterdrückte das Bedürfnis Shanaya die Haare zu verwuscheln und ließ die Hand stattdessen sinken. Sie fühlte sich wieder etwas entspannter, jetzt wo sie sich vergewissert hatte, dass Shanaya kein Fieber hatte und ihre Schulter einfach...nun ja, eben nur verletzt war. Das war natürlich schlimm genug, aber immerhin war der restliche Körper nicht betroffen. Sie schenkte ihrer Freundin ein Lächeln und nickte schließlich, ebenso wenig erpicht darauf weder dem Nebel noch den Vögeln wieder zu begegnen. Talin griff nach der Hand der Dunkelhaarigen und zog sie wieder zurück aufs Hauptdeck und dann dort an die Reling, um den leichten Fahrtwind und den Seegeruch zu genießen. Für einen Moment schloss Talin die Augen und genoss die Ruhe, bevor sie die jüngere schließlich neugierig ansah. „Ich weiß immer noch nicht recht, wie wir es dort rausgeschafft haben. Hast du solche Vögel schon einmal gesehen? Ich dachte sie wären nur Legenden.“

Talin nickte nur und im nächsten Moment griff sie nach Shanayas Hand, zog sie mit sich an Deck des Schiffes. Kurz herrschte Stille zwischen ihnen, die nur von dem leisen Rauschen des Meeres durchbrochen wurde. Die Schwarzhaarige genoss einige Herzschläge lang die Ruhe, die sanfte Brise, genau wie ihre Freundin. Bei den Worten der Blonden wandte Shanaya den Blick zu ihr herum und nickte zustimmend auf ihre Worte. „Wer weiß, was sie ohne den Nebel mit uns angestellt hätten...“ Shanaya schauderte, fuhr sich dann einmal mit der Hand über das Gesicht. „Das war auch meine erste Begegnung mit diesen Wesen.“ Ihr Lächeln wurde einen Hauch breiter. „Und wahrscheinlich war das gerade einmal der Anfang. Wer weiß, was für Wesen wir noch begegnen...“

Ein Schauer lief ihr über den Rücken und das war gewiss kein angenehmer. Shanayas Worte ließen Bilder durch ihren Kopf schießen, bei denen sie aufheulen wollte. „Es wäre noch schlimmer gekommen, als deine Schulter oder Liams Verletzungen. Und stell dir nur ein mal vor, was sie mit der Sphinx gemacht hätten!?!?“ Sie strich liebevoll über die Reling, bevor sie ein leises Seufzen ausstieß. „Stell dir erst einmal vor, wie teuer das geworden wäre.“ Ja, bei dem Gedanken an die verlorenen Münzen für eine erneute Reparatur des Schiffes, wollte sie wirklich weinen. Für einen Moment überlegte sie, ob man ihr vorwerfen konnte, zu viel Zeit mit Zairym zu verbringen, denn sie meinte schon fast so wie der Söldner zu klingen. Sie musste allerdings zugeben, dass sie jeder Zeit Geld in die Hand nehmen würde, um ihr Schiff zu reparieren. Nur eben von jemandem, der auch wirklich wusste, was er tat. Und das war bei diesem Schifftypen nun einmal schwierig. Als sie schließlich zu Shanaya blickte, lenkte deren breites Grinsen sie für einen Moment ab, bevor sie es schließlich erwiderte. Der Schauer, der sich diesmal ihren Rücken entlang schlich hatte nichts mit Angst, sondern nur mit Vorfreude zu tun. „Ich hoffe nur, wir sind dann besser darauf vorbereitet, also auf solche zusammen treffen. Was für ein Wesen würdest du gerne einmal sehen?“

Talins Worte entlockten Shanaya ein leises Seufzen. Ja… was das gekostet hätte. Und das, nachdem sie so viel Geld und Zeit investiert hatten, damit die Sphinx wieder in vollem Glanz erstrahlte. „Umso besser, dass wir sie doch los geworden sind… und niemand einen Arm oder seinen Kopf verloren hat.“ Kurz huschte ihr Blick zu Talins Hand, die über das Holz strichen. „Aber auch das würden wir hinbekommen. Und wenn wir Trevor an den Zirkus verkaufen müssten...“ Immerhin waren sie ihn dann los. Die nächsten Worte entlockten ihr ein leises Auflachen. „Nächstes Mal holen wir ein langes Tau raus, werfen es als Lasso und zähmen eins von den Biestern. Was sagst du dazu?“ Schließlich hätten sie dann auch immer eine Verteidigung, wenn sie wieder angegriffen wurden. „Was ich sonst gern sehen würde… vieles. Drachen stehen ganz oben, in jeglicher Form und Farbe. Aber ich bin mir sicher, es gibt auch noch genug Wesen, von denen wir noch keine Ahnung haben. Vielleicht sind wir so abgestumpft, wenn wir Sirenen treffen, dass sie für uns wie das Normalste der Welt wirken. Vor allem, wenn es auf in eine andere Welt geht...“

Der Gedanke, Trevor zu verkaufen, lockte ein Lächeln hervor, auch wenn sie es nicht kommentierte. Sie wollte Shanaya nicht zu sehr verschrecken, aber sie fand den Kindskopf doch recht nützlich. Immerhin schien er aus so ziemlich jeder Situation heil rauskommen zu können. Sei es nun mit einem genialen Kopf oder einfach nur purem Glück. Doch schnell wanderten ihre Gedanken weiter, als sie der anderen zu hörte, wie sie von Fabelwesen und anderen Welten sprach. Ihr Lächeln wurde sehnsuchtsvoll, fast ein wenig wehmütig, während sie auf den Horizont hinaus sah. Für einen Moment befand sie sich auf einem Kliff mit einem großen Baum und hörte ihr eigenes kindliches Lachen, während sie gebannt den Geschichten ihres Bruders lauschte. Ein leiser Seufzer verließ ihre Lippen und sie wandte sich Shanaya zu, musterte sie neugierig. „Ich hab dich das bestimmt schon mal gefragt, aber: Warum willst du zur See fahren? Warum als Navigatorin? Warum die Sehnsucht nach anderen Welten?“ Denn die meinte sie in der Stimme der Dunkelhaarigen herausgehört zu haben.

Talin kommentierte ihre Worte nicht, aber ein Lächeln lag trotzdem auf den Lippen ihrer Freundin. Der Ausdruck änderte sich jedoch mit dem nächsten Thema, und einige Herzschläge lang folgte Shanaya dem Blick der anderen Frau. Auch, als Talin sich ihr wieder zu wandte, ruhten die blauen Augen noch einen Moment auf dem Horizont. Mit den Fragen ihrer Freundin grübelte sie einen Moment, ehe sie sich mit einem munteren Lächeln herum wandte. „Ich könnte mich nicht erinnern, dass du das schon einmal gefragt hast.“ Ihre Stimme war ruhig, ein wenig nachdenklich, was sich jedoch änderte, als sie weiter sprach. Nun lag Begeisterung in jeder Silbe, das Feuer, für das Shanaya brannte. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll… Ich habe bei meinen Eltern so viel Zeit auf See verbracht und habe mich dabei, trotz der Umstände einfach frei gefühlt. Auch so hat man seine Grenzen, aber… den Wind im Gesicht und den Segeln, das Wasser im Gesicht, die Wellen, auf denen man reitet. Und woher die Begeisterung für die Navigation kommt, also… vermutlich habe ich als kleines Kind zu viele Karten in der Hand gehabt, die falsch waren, habe zu viele andere Navigatoren gesehen, die nach diesen Karten gefahren sind und… damit die ganze Crew in Gefahr gebracht haben. Und zusätzlich habe ich mir schon früh Welten und Inseln selbst ausgedacht. Ich habe also früh angefangen, Karten zu zeichnen. Und...“ Nun hatte sie nur noch eine Frage offen „Ich liebe einfach Abenteuer, nicht zu wissen, was als nächstes passiert. Inseln zu betreten, die vielleicht noch niemand vor mir betreten hat.“ Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter. „Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, in manchen Dingen sind wir uns sehr ähnlich. Ist es bei dir auch so?“

Talin biss sich ein wenig auf die Unterlippe, weil sie Shanaya nicht mit einem Lachen unterbrechen wollte. Aber die Begeisterung der anderen, ließ sie wie ein kleines Kind aussehen. Nicht, dass sie wirklich noch eines war, aber sie konnte die Aufregung, Abenteuerlust und Begierde nach Neuem in den Augen glitzern sehen. Und das machte sie zum Kind. Sie fragte sich, wann sie das letzte Mal in so einer Aufregung war, dass sie diesen Blick gehabt hätte. Als Shanaya schließlich endete, lag ein Lächeln auf Talins Lippen und sie konnte nicht anders, als dem Mädchen über die dunklen Haare zu streicheln. „Es ist gut, dass du zu uns gekommen bist. Hier kannst du diesen Traum ausleben...und uns vor falschen Karten beschützen.“ Sie lachte leise, bevor sie aufs Meer hinaus sah. „Für Lucien und mich stand immer fest, dass wir zur See fahren wollten. Unsere Heimatinsel schafft es gerade einmal so auf eine Karte, was hätte uns da also halten sollen? Arbeit? Familie? Die netten Nachbarn?“ Sie schnaubte angewiedert, bevor sie den Kopf schüttelte. „Wir sind geborene Abenteurer. Wir wollten immer weg, einfach los segeln, ohne Verpflichtungen. Dinge entdecken, Schätze bergen, gegen andere Piraten kämpfen.“ Sie sah die Sphinx hinauf und seufzte leicht. „Wobei wir es mit denen wahrscheinlich noch nicht einmal aufnehmen könnten.“

Shanaya war immer wieder überrascht, wie einfach es ihr bei manchen Menschen fiel, so viel von sich selbst zu sprechen. Bei Talin, bei Lucien. Auch Liam und Greo wussten einiges von ihr. Sie mussten ihr nur nahe genug stehen, sie musste ihnen vertrauen. Gut, diese Begeisterung für das, was sie tagtäglich tat, wenn ihr Arm nicht gerade in einer Schlinge hing, konnte sie jedem entgegen bringen, aber… Talin wusste auch um ihre Familie, um den Zwang, der sie umgeben hatte, bis sie zur Crew der Sphinx gestoßen war. Sie hatte sich ein bisschen zügeln müssen, um Talin nicht voller Begeisterung jedes kleine Detail hundert Mal zu erzählen, fragte also mit ehrlichem Interesse, wie es bei ihr ausgesehen hatte. Und sie lag nicht ganz falsch, sie waren sich recht ähnlich, was diese Thematik anging. Zwar war ihr Blick noch etwas verwirrt von der Berührung der anderen Frau, aber sie blinzelte nur und lauschte der Erzählung der Blonden zu Ende. Mit einem ruhigen Lachen hob sie die Hand, salutierte. „Aye Captain, dafür bin ich hier.“ Dieses Mal folgte sie dem Blick ihrer Freundin nicht, richtete die blauen Augen stattdessen kurz zum Deck, ehe sie Talin wieder direkt anblickte und ihr Lächeln bei ihrer Erzählung sanfter wurde. „Das klingt sehr vertraut. Umso glücklicher bin ich, euch beide als Captain zu haben. Da verfolgen wir immerhin sehr ähnliche Ziele.“ Und dieses Wissen tat so unendlich gut. Mit den nächsten Worten streckte sie die Faust geballt etwas in die Höhe, grinste Talin vielsagend entgegen. „Sag so etwas nicht! Wenn uns nicht gerade ein mystischer Nebel dazwischen kommt, nehmen wir es doch locker mit jedem anderen auf!“

Etwas fühlte sich merkwürdig an. Obwohl sie über die Freiheit sprachen, schien ihr Herz sich zusammen zuziehen und sich gleichzeitig wieder zu lockern. Auch ihre Gefühle schienen sich nicht einig zu sein, was genau die Oberhand gewinnen wollte. Ihr war nach Weinen zu mute, wenn sie an die Dinge dachte, die Lucien und sie sich als Kinder erträumt und versprochen hatte. Ihr Bruder war nicht mehr dieser Junge und sie hasste die Person, die ihm diese Unschuld genommen hatte und trauerte gleichzeitig um sie. Auf der anderen Seite wollte sie lachen, so kindisch, wie Shanaya und sie sich wohl gerade benehmen mussten. Schließlich brach es aus ihr heraus, als die Dunkelhaarige die Faust in die Höhe streckte. Nur gut, dass sie noch nicht so voller Feuereifer war, dass sie aus Versehen den kaputten Arm genommen hätte. Dann hätten sie gleich wieder zu Gregory gekonnt, um sich die Verletzung des Mädchens ansehen zu lassen. „Ich freu mich, dass du so volles Vertrauen in uns hast. Aber wenn das Piratenschiff größer als unseres ist und die Mannschaft dementsprechend auch, dann haben wir doch ein Problem, deinen Optimismus in allen ehern. Wobei deine Lösung in so einem Kampf wahrscheinlich auch wieder Trevor reinwerfen wäre?“ Sie grinste vielsagend, bevor sie sich umdrehte und mit den Armen auf die Reling gestützt ihr Schiff ansah. „Ah, da fällt mir ein. Hast du noch etwas zu Liams seltsamer Karte herausfinden können?“

Shanaya konnte nicht genau sagen was, aber irgendetwas stimmte nicht ganz. Talin wirkte nicht halb so begeistert wie sie selbst, obwohl sie der Blonden irgendwie genau das zugetraut hätte. Aber… sollte sie das ansprechen? Empfand sie das so? Erst einmal meinte die Blonde jedoch, Shanayas Enthusiasmus mindern zu wollen. Sie lauschte den Worten ihrer Freundin, schnaufte dann leise und stubste ihr, als sie geendet hatte, mit einer kräftigen Geste auf den Punkt zwischen die Augen. „Wenn du so denkst, dann wird es auch genau so passieren! Und Trevor als Kanonenfutter nutzen ist doch schonmal eine perfekte Idee!“ Sie lächelte ihrer Freundin aufmunternd entgegen. „Wir müssen zwar noch ein wenig zusammen wachsen, aber ich bin sicher, dass wir es dann mit ganzen Flotten aufnehmen könnten!“ Gut, auf manch einen würde sie sich vielleicht nicht verlassen, aber im Großen und Ganzen…! Talin lehnte sich als nächstes an die Reling und dieses Mal folgte Shanaya ihrem Blick, schnaufte dann bei der Frage, die folgte. „Leider nein. Ich fürchte, wir müssen wirklich bis zur zweiten Welt warten. Auch wenn mir das ganz und gar nicht schmeckt...“

Sie mochte den Gedanken, es mit ihrer kleinen Mannschaft gegen eine ganze Flotte aufnehmen zu können. Deshalb grinste sie auch, als sie zu den roten Segeln aufblickte. Wahrscheinlich würden sie das andere Schiff nur wieder in die Luft jagen müssen, um entkommen zu können. Ja, irgendwie hatten die Ereignisse auf der Morgenwind doch ihre Spuren hinterlassen. Sie dachte immer öfter daran, irgendwelche Gefahren aus dem Weg zu sprengen. Statt also die größte Schwertkämpferin zu werden, sollte sie sich lieber allem Explosivem widmen. Ihre Gedanken wurden wieder auf ihre Frage gelenkt, als Shanaya schnaufend antwortete. Talin konnte heraushören, wie wenig es der Jüngeren gefiel, so wenig zu wissen. Das ließ sie wieder Schmunzeln. „Schon in Ordnung. Ich dachte nur – auch wenn der Gedanken unsinnig ist – dass auf der Karte ein Ort verzeichnet sein könnte, an dem wir einen Carpenter finden, der sich mit unserem Schiffstyp auskennt. Wenn die Sphinx all ihr Potential wieder entfalten kann...ja ich denke, dann können wir es mit anderen Piraten locker aufnehmen.“

Diese Karte! Shanaya dachte nicht ständig und überall an sie – aber wenn, bis sie sich an diesem Gedanken fest. Sie überlegte noch immer, wie sie dieser Karte ein Wort, eine Linie oder irgendetwas entlocken konnten. Zu gern hätte sie auf dem Papier herum gezeichnet… aber eine Kopie anfertigen war ja leider nicht möglich. Also musste sie wohl wirklich, geduldig wie sie eben war, bis zu ihrer Ankunft in der zweiten Welt warten.
Talin schmunzelte immerhin, sodass Shanaya noch einmal schnaufte und dann den Worten der Blonden lauschte. Sie überlegte kurz, antwortete dann mit einem Lächeln. „Irgendwo gibt es sicher jemanden, der sich damit auskennt. Ob nun nach dieser Karte oder durch Zufall auf einer anderen Insel.“ Sanft strich sie mit den Fingern über das Holz der Reling. „Und dann kann kein gegnerisches Schiff aller Welten etwas ausrichten, so schnell wie die Sphinx ist.“ Kurz huschte ihr Blick zu der eigenen Hand, über die Maserung des Holzes. Erst dann richtete die Schwarzhaarige ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Freundin. „Aber… irgendetwas von diesen Themen scheint dich zu bedrücken…?“ Ein sachtes Lächeln galt der anderen Frau, ohne Zwang in der Stimme. Wenn sie wollte, konnte sie antworten, aber Shanaya war niemand, der in solch einer Situation auf eine Antwort pochte.
Talin nickte geistesabwesend, lächelte aber immer noch bei dem Gedanken wie die Sphinx – gänzlich repariert – über die Wellen flog. Allein Shanayas Worte ließen diese Gedanken in ihr lebendig werden und sie genoss sie. Zumindest so lange, bis Shanaya wieder sprach. Fragend sah die Blonde die andere an, bevor sie leicht überrascht die Augenbrauen in die Höhe zog. Klang sie wirklich bedrückt? Kurz überlegte sie, sah auf das Meer hinaus, während sie ihr Gespräch mit Shanaya Revue passierten ließ. Als ihr einfiel, weshalb sie wohl so klingen mochte, schüttelte sie leicht den Kopf, während sie darüber nachdachte, sich der anderen mitzuteilen oder nicht. Schließlich stieß sie ein leises Seufzen aus. „Um ehrlich zu sein...ich hänge noch mit meinen Gedanken in meiner Kindheit fest. Nicht bei meinen Eltern oder der Insel oder irgendetwas davon. Es ist eher...hm...etwas was ich verloren habe und wo ich mir nicht sicher sein kann, dass ich es jemals wieder bekomme. Das macht mich traurig und sehr wehmütig.“ Sie lächelte leicht, auch wenn es nicht ganz ihre Augen erreichte. „Es nimmt mir nicht die Aufregung bei dem Gedanken durch alle Welten zu fahren, aber es hinterlässt einen Nachgeschmack, der mich denken lässt ‚Was wäre, wenn...?‘, verstehst du?“

Shanaya war sich nicht sicher, was sie erwarten sollte. Auf der einen Seite konnte sie sich gut vorstellen, dass Talin abwinken würde, sich raus redete. Und die Blonde selbst schien sich nicht ganz sicher zu sein, schüttelte zuerst den Kopf und mit ihrem Seufzen rechnete die Schwarzhaarige genau damit – dass sie keine wirkliche Antwort bekommen würde. Es wäre für sie in Ordnung gewesen, auch wenn sie gern gewusst hätte, was ihre Freundin bedrückte. Nach wie vor war das für sie ein ebenso verwirrendes, unbekanntes Gefühl. Als die andere Frau dann doch zu einer Erklärung ansetzte, legte sich ein ruhiges Lächeln auf die Lippen der jungen Frau, sie lauschte aufmerksam, bis sie geendet hatte. Bei ihren Worten hatte Shanaya einen kurzen Verdacht gehabt, der in ihrem Kopf jedoch nicht mit den weiteren Worten zusammen passte. Die Weise, wie Talin ihre Situation erklärt hatte, ließ Shanaya jedoch keine weiteren Vermutungen anstellen. Sie würde ihr schon sagen, worum es ging, wenn sie wollte. Die abschließende Frage ihres Gegenübers ließ Shanaya nicken, wenn auch mit einer leicht grüblerischen Miene. Sie schwieg einige Sekunden, grübelte. „Weißt du, was du tun müsstest, um es wieder zu bekommen?“ Eine simple Frage und trotzdem würde sie, wenn Talin darauf eine Antwort wusste, schon viel bringen. Sie wollte die Schultern etwas bewegen, zuckte bei dem Schmerz jedoch leicht zusammen und ließ es bleiben. Ihr lagen noch andere Fragen auf der Zunge, sie beließ es jedoch erst einmal dabei, viele davon würden auf die Antwort der Blonden aufbauen.

Aus dem Augenwinkel sah sie zu Shanaya, nahm sie aber nur zum Teil wahr. Der andere Teil war immer noch gefangen in der Vergangenheit in den Gedanken an all das, was hätte sein können, wenn es diese eine letzte Fahrt nicht gegeben hätte. An all das, was sie vielleicht niemals geworden wäre. Hm... Shanayas Frage lenkte sie ab und Talin stieß ein freudloses Lachen aus, sah die Dunkelhaarige dabei aber beruhigend an. Das andere Mädchen sollte nicht denken, dass es an ihr lag, dass diese Frage alles andere als leicht war. „Die Zeit zurückdrehen, nehme ich an?“ Ihr Blick fiel auf das Schiff, auf das Meer und sie schüttelte den Kopf. „Aber das könnte ich jetzt nicht mehr. Ich liebe dieses Schiff und wenn ich die Zeit zurückdrehen würde, hätte ich es dann noch? Außerdem mag ich mich selbst ziemlich gern so wie ich jetzt bin.“ Sie zuckte mit den Schultern, als würde sie dem Rest der Welt sagen, er solle etwas gegen ihr Ego tun. Doch schließlich stieß sie ein Seufzen aus. „Ich weiß nicht, was ich tun könnte, um es zurückzubekommen. Ich habe...ich kann nicht sagen, dass ich schon viel ausprobiert habe, aber nichts, was ich bis jetzt getan habe, hat geholfen.“ Außer das sie und Lucien im Moment wieder auf Eierschalen herum zu tanzen schienen. „Wenn du dich jemals so gefühlt hast, dann wäre ich für einen Tipp dankbar.“

Ruhig betrachtete Shanaya ihre Freundin, stieß bei dem freudlosen Lachen der Blonden ein tonloses Seufzen aus. Die Zeit zurück drehen klang nicht unbedingt nach einem vielversprechenden Unternehmen. Aber noch antwortete Shanaya nicht, wartete in aller Ruhe die nächsten Worte der anderen Frau ab. Als ihr Gegenüber schließlich geendet hatte, fuhr Shanaya sich nachdenklich mit der gesunden Hand durch die schwarzen Haare, gab ein leises, grüblerisches Brummen von sich. Sie… hatte sich nie so gefühlt. Sie war froh, alles aus ihrer Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Ein für alle Mal. „Hmm… und… du meinst nicht, dass du es… los lassen könntest? Nicht… komplett, aber so, dass es für dich ein wenig angenehmer ist, mit ein wenig Distanz?“ Manchmal half es ja. „Das klingt wahrscheinlich einfacher als es ist…“ Sie schmunzelte etwas schräg, wog den Kopf dabei zur Seite. „Aber vielleicht würde dir das ganz gut tun?“

Talin blinzelte einige Male und versuchte die Verunsicherung, die bei Shanayas Worten in ihr aufkam, zu unterdrücken. Loslassen? Distanzieren? Das waren Worte, die die Blonde nicht hören wollte – nicht von dem Mädchen, dass sie als Freundin betrachtete. Bei ihren eigenen Gedanken stieß sie einen frustrierten Seufzer aus. Es war wirklich nervig, dass sie die Dunkelhaarige immer wieder mit Sara verglich, wobei die beiden Mädchen nichts gemein hatten. Noch viel weniger die Absicht, Talin von Lucien zu trennen. Nochmals seufzte die Blonde und strich gedankenverloren über die feine Narbe auf ihrer linken Hand, bevor ein kleines Lächeln um ihre Lippen spielte. „Ich verstehe, was du sagen willst, aber das kann ich nicht. Ich bin an dieses eine Versprechen gebunden. Für immer, wenn du so willst.“ Sie hob den Blick, hatte nicht einmal bemerkt, ihn gesenkt zu haben, und sah Shanaya nachdenklich an. „Ich habe mich von dem Traumbild, von meinem Wunsch, wie es sein sollte, schon vor einiger Zeit getrennt, aber ich kann es nicht gänzlich loslassen...“ Sie fuhr sich durch die Haare und lachte auf. „Es tut mir leid, dass ich so in Rätseln spreche. Lass mich dir eine andere Frage stellen, ja? Wie werde ich Wut los? Ich weiß etwas, etwas, was ich nicht ändern kann, weil es schon geschehen ist, und ich spüre so einen unbändigen Hass in mir, aber ich kann nichts tun. Was fällt dir dazu ein?“

Shanaya, noch immer nicht ganz sicher, worum genau es ging, betrachtete die Regungen der blonden Frau. Sie war wirklich niemand, der einen starken Helferkomplex hatte… eher das Gegenteil. Aber dieses ganze Thema hatte ihre Freundin bedrückt… und Shanaya hätte lügen müssen, hätte sie behauptet, ihr diese Last nicht nehmen zu wollen. Talin antwortete und Shanaya nickte verstehend. „Gut, das sehe ich ein. Dann solltest du es definitiv nicht los lassen.“ Versprechen waren der jungen Frau heilig, sie war die Letzte, die nicht verstanden hätte, dass man sich daran halten wollte. Egal, was kam. Einen Moment schwieg sie, fuhr sich nun mit der Hand über das Gesicht. „Und wenn du dein Traumbild etwas… formst? Wenn du es nicht so zurück bekommst, wie du es gern hättest… wenn du es etwas anpasst? Abstriche machst? Vielleicht würdest du damit glücklicher werden?“ Das klang alles so einfach, aber Shanaya selbst hatte sich damit nie auseinander setzen müssen. Es war also leicht, Reden zu schwingen. Das ‚in Rätseln sprechen‘ tat Shanaya mit einer amüsierten Miene ab, sie war von den Geschwistern nichts anderes gewohnt, irgendwie. Die nächste Frage der Blonden ließ Shanaya überrascht blinzeln. Wie sie Hass und Wut los wurde? Wenn sie dafür ein Universalmittel hätte, würde ihr Bruder längst nicht mehr leben. Mit grüblerischen Zügen auf den Gesicht schnalzte die Schwarzhaarige leise mit der Zunge. „Ich würde dir anbieten, jedes Mal, wenn du so wütend bist, dass du es an mir auslässt. Also… nicht direkt, aber vielleicht helfen dir ein paar kleine Kämpfe? So lang, bis wir das Gefühl haben, dass wir keinen Degen mehr halten können? Mit dramatischem Geschrei… vielleicht kannst du so Wut ablassen?“ Shanaya lächelte, deutete auf ihre Schulter. „Aber vielleicht warten wir damit, bis ich mich wieder einigermaßen wehren kann.“

Ihre Gedanken schwirrten um Shanayas Worte, wie Fliegen um Aas. Der Vergleich mochte eklig sein, aber es traf doch ziemlich ins Schwarze. Sie sagte nichts zu Shanayas Vorschlägen, war viel zu gespannt darauf, wie ihr die Schwarzhaarige bei ihrer anderen Frage helfen würde, aber in ihrem Kopf arbeitete es. Es stimmte schon. Sie hatte den Traum von damals, nicht geändert, sondern ihn immer weiter verfolgt. Aber jetzt, so wie alles, was geschehen war, Lucien und sie verändert hatte, müsste sie vielleicht auch den Traum und das Versprechen von damals anpassen, oder nicht? Innerlich verdrehte sie die Augen und unterdrückte das Bedürfnis, sich die Haare zu raufen. Wenn Lucien doch nur mit ihr reden würde, statt ihr auszuweichen. So ein verdammter Sturkopf aber auch.
Shanayas nächste Worte brachten Talin schließlich wieder zurück aufs Schiff und auch zum Lachen. Belustigt schüttelte die Blonde den Kopf und musterte ihre Freundin. „Wir sollen uns also prügeln, bis ich nicht mehr wütend oder hasserfüllt bin? Oh, meine Liebe, dann würdest du vermutlich schnell wieder einen Arm in der Schlinge haben.“ Sie lachte und fuhr sich noch einmal mit den Händen durch die Haare. Das leichte Ziepen und Kratzen auf ihrer Kopfhaut beruhigte sie etwas. „Ich bin wütend, weil ich es nicht verhindern konnte und hasserfüllt, weil etwas zerbrochen wurde, was sich nicht mehr zusammensetzen lässt. Ich glaube nicht, dass es mir hilft auf dich einzuschlagen.“ Sie seufzte. „Ich wünschte ich könnte es verständlicher ausdrücken, aber es ist nicht meine Geschichte, weshalb ich es nicht erzählen kann, aber es macht mich so schrecklich unruhig. Vielleicht komme ich doch auf das Prügeln zurück. Hast du auch so etwas? Etwas, aus deiner Vergangenheit, was dich so schrecklich wütend macht?“


Talin schwieg auf die ersten Worte der Schwarzhaarigen hin – was für sie vollkommen in Ordnung war. Sie hackte nicht weiter nach, bestand nicht auf eine Antwort. Es fiel Talin so schon schwer genug. Und trotzdem… Shanaya goss diesen Moment, diese Vertrautheit zwischen den Beiden. Sie nahm nicht persönlich, dass die Blonde nicht alles genau erklärte, manches wollte man vielleicht einfach nicht vor anderen offenbaren. Da ging es ihr nicht anders.
„Dann… nehme ich das Angebot vielleicht zurück? Ich möchte nicht dauerhaft zusehen, wie jemand anderes an meinem Steuer steht!“ Die Schwarzhaarige blickte ein wenig bedröppelt drein, lächelte dann aber mit diesem kurzen Scherz wieder. Talin fuhr sich wieder durch die Haare, sprach dann weiter und noch einmal nickte Shanaya, auch wenn ihr keine wirkliche Lösung dafür einfallen wollte. „Ich stehe jederzeit zur Verfügung, wenn du Dampf ablassen willst.“ Sie meinte ihre Worte ernst, selbst wenn diese Lösung vielleicht nur für den Moment helfen würde. „Nicht direkt… also… so geht es, aber wenn ich meinem Bruder gegenüber stehe…“ Sie ließ den Rest des Satzes offen, warf Talin einen vielsagenden Blick zu. „Und ich denke, wenn ich meinem Vater gegenüber stehe, wird es nicht groß anders sein. Nur, dass ich das alles da schon immer besser unter Kontrolle hatte.“


Sie hoffte darauf, dass Shanayas Antwort sie vielleicht etwas ablenkte, von diesem Wirrwarr, in welches sich ihre Gedankenwelt zu verwirren drohte. Ein wenig half der Scherz der Dunkelhaarigen, weshalb sich auf Talins Lippen ein Lächeln schlich. Es blieb auch noch bei den nächsten Worten der Dunkelhaarigen, auch wenn es etwas trauriger war. „Ich vergesse manchmal, dass nicht jeder seinen Bruder so sehr liebt, wie ich. Aber das mit deinem Vater kann ich wohl verstehen.“ Ja, jeder hatte so seine Geschichte, sei es mit der Familie oder anderen Leuten. Niemand auf diesem Schiff konnte wohl von einer Vergangenheit sprechen, die durch und durch glücklich war. Außer vielleicht Liam, den nichts zu bekümmern schien. „Ich gebe dein Angebot an dieser Stelle zurück. Wenn du kämpfen willst oder darüber reden, weshalb du sie so sehr hasst und dich nicht mehr unter Kontrolle halten willst, ich bin hier. Die ganze Zeit. Ich schwöre, dass ich dich auch nicht so sehr verprügle, damit du weiterhin am Steuer stehen kannst.“ Sie zwinkerte Shanaya verschwörerisch zu.

Mit Talins Lächeln wurde auch Shanayas Miene ein wenig wärmer, selbst wenn sie über die zwei Menschen sprach, die sehr mehr hasste als alles andere in allen Welten. Sie lachte leise über die Worte der Blonden, strich sich dann eine Strähne aus den Augen und schnaufte leise. „Bláyron und Lucien haben auch… eigentlich gar nichts gemeinsam. Du kannst dich also glücklich schätzen, solch einen Bruder zu haben.“ Man konnte die beiden wirklich in keinster Weise vergleichen, was ja nur für den Dunkelhaarigen sprach. Sie fragte nicht direkt nach, wie die Beziehung der Blonden zu ihrem Vater war, sie glaubet genug aus ihren Worten heraus zu hören. „Und irgendwie hat ein Großteil derer, die ich kenne, ein Problem mit ihrem Vater. Gehört wohl irgendwie dazu.“ Das Angebot, das die Blonde zurück gab, nahm Shanaya mit einem dankbaren Lächeln und einem Nicken entgegen, verzog dann aber mit gespielter Theatralik die Miene. „Das wäre sehr großzügig, mit blauen Flecken kann ich leben, aber… wenn ich noch länger so eingeschränkt bin, schmeißen mich die beiden Captains dieses Schiffs ganz sicher bald auf offenem Meer über Bord.“ Ihre Stimme wurde ein wenig leiser, beinahe verschwörerisch.

„Glaub mir, dass tu ich auch.“ Sie sagte die Worte nur leise, mehr zu sich selbst, als wirklich zu der Dunkelhaarigen. Sie schätzte sich wirklich mehr als glücklich, dass sie Lucien als ihren Bruder hatte. Nur das auch er es war, der ihr Kopfzerbrechen bereitete. Wäre die Beziehung zwischen ihnen beiden nicht so innig, hätten sie sich als Kinder nicht so zusammenraufen müssen, um gegen alle anderen zu bestehen, dann würde sie seine Probleme vielleicht nicht so sehr an sich heran lassen. Ach, wem machte sie sich eigentlich etwas vor? Luciens Probleme beschäftigten sie immer. Egal, ob sie nun so aufgewachsen wären, wie sie waren.
Talin schob die Gedanken wieder von sich und lachte bei Shanayas Worten über Väter. „Ich hätte auch noch eine problematische Beziehung zu seiner Mutter im Angebot. Können all deine Freunde und Bekannten auch da mit halten?“ Es war nur eine rhetorische Frage, denn schnell schlug ihre nachdenkliche Stimmung, wieder in eine verspielte um. Sie beugte sich etwas vor und sagte mit bestem Bühnenflüsterton: „Ich gebe dir recht. Die zwei Captains nehmen nur ungern nutzlose Streuner mit, also ist es schon besser, du machst dich nützlich, sondern wirst du auf einer einsamen Insel zurückgelassen.“ Belustigt schüttelte sie den Kopf.


Talin sprach die Worte nur leise aus, sodass Shanaya nur kurz eine Augenbraue hob, jedoch nicht weiter darauf einging. Aber das Thema Brüder stand für sich – und für Shanaya war das alles andere als angenehm. Sie musste schon nach dieser kurzen Witzelei schwer schlucken, was jedoch nach einigen Momenten wieder verflog.
„Eine gute Frage – ich kann nur mit einer schwächlichen Mutter dienen, die sich nie für mich, sondern nur für meine Wirkung auf Andere interessiert hat.“ Noch einmal zuckte Shanaya mit der gesunden Schulter, lachte dann, als Talin auf ihre kleine Verschwörung aufsprang. „Ich sehe sie schon vor mir, wie sie mich von Bord schmeißen und finster grinsend an der Reling stehen. Wir sollten also nicht zu laut reden, sonst hören sie uns noch...“ Damit klopfte sie ihrer Freundin mit einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und lächelte ihr warm entgegen.