Inselwelten

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Frauengeschichten - Teil 1
Talin & Lucien
22. Mai 1822 | Vormittags | Bordell von Silvestre


Dreh deinen Kopf mal ein kleines Stück, bat ihn eine sanfte, leise Stimme und Lucien gehorchte, neigte den Kopf mit einem leisen Seufzen auf die Seite. Die Augen ließ er dabei geschlossen und spürte nur einen Moment später die zarte Berührung eines feuchten Tuchs, das über die Platzwunde an seiner Braue fuhr und das frische Blut abwischte, das das heiße Bad von zuvor wieder zum Fließen gebracht hatte.
Lucien hatte, angesichts der Ereignisse der vergangenen Nacht, verhältnismäßig lange geschlafen und es gerade erst geschafft, sich Blut, Schweiß und Staub in dem mit heißen Wasser gefüllten Zuber von der Haut zu schrubben. Gefrühstückt hatte er nicht und deshalb eins der Mädchen gebeten, ihm einen Teller mit Obst und Käse zu bringen. Sie kam, keine fünf Minuten später, als er gerade dabei war, sich anzuziehen, und brachte neben einem Tablett mit Essen auch eine Schüssel kühles, klares Wasser und ein sauberes Tuch.
Danach hatte sie darauf bestanden, sich um sein Gesicht zu kümmern – und wer war er, ihr diese Bitte abzuschlagen, die sie ihm ganz ohne Gegenleistung anbot? Rikka war ihr Name, so viel wusste er bereits. Jung und auffallend schön, mit dunkelbraunem Haar und Augen von faszinierend rötlichem Kastanienbraun.
Sie komplementierte ihn mit nicht mehr als einem lockeren Hemd und einer Stoffhose bekleidet in einen der weichen Sessel am Fenster, stellte das Tablett mit Obst und Käse auf einen kleinen Beistelltisch neben ihm und zog sich selbst einen Hocker heran. Dann drückte sie ihn mit einer Hand zurück ins Polster und Lucien schloss ergeben schmunzelnd die Augen, um sie machen zu lassen.
Hinter seiner Stirn pochte dumpfer Schmerz und auch sein Kiefer schmerzte jedes Mal, wenn er den Mund zum Sprechen bewegte. Bestenfalls ließ er es also sein. Das sieht ziemlich übel aus. Eine Feststellung und er wusste, dass sie auf das dunkelblaue Veilchen an seinem Auge, seine aufgeplatzte Lippe und den Bluterguss an seinem Kinn anspielte. Bist du sicher, dass sich das kein Arzt ansehen soll?, fragte Rikka zögernd und er schüttelte nur leicht den Kopf. „Nicht nötig. Und wenn, dann haben wir ja Gregory. Du kennst ihn bestimmt.“ Doch sie antwortete nur mit einem leisen, zweifelnden Laut.


Das Gespräch ließ ihr keine Ruhe. Bei diesem Gedanken verdrehte Talin die Augen und war kurz davor, sich die Haare zu raufen. Sie hatte in den letzten Tagen ja auch nicht dutzende von Gesprächen geführt oder gar an einem Mordfall gearbeitet. Aber nein, dass alles verschwand in den Hintergrund, weil alles sich in ihr immer und immer wieder um ihr Gespräch mit Shanaya drehte. Es sollte sie nicht so aufwühlen. Die Dunkelhaarige hatte ihr ein Versprechen gegeben. Ein Versprechen, dass sie niemals brechen wollte. Ein Versprechen unter Freundinnen. Und vielleicht war es gerade das, was sich ihr Herz zusammen ziehen ließ, was sie daran zweifeln ließ. So etwas hatte sie schon einmal gehört und war dann verraten worden. Und natürlich war es auch damals um das gleiche Etwas gegangen. Nicht etwas, jemand.
Frustriert fuhr sich Talin nun doch durch die Haare, nur um kurz darauf die Treppe hinauf zu stürmen. Sie hatte lange genug gewartet, hatte es lange genug herausgezögert und wusste selbst, dass sie nicht mehr warten konnte. Sie musste mit Lucien reden. Es würde ihr keine Ruhe lassen, bis sie wusste, ob sich die Geschichte wirklich wiederholte. Ein wenig war sie stolz auf sich, dass sie bis jetzt hatte warten können, ihren Bruder mit Fragen zu löchern. Aber da sie sich so lange zurückhalten musste, waren ihre Schritte nur um so schnell und sie stand, nachdem sie eines der Mädchen gefragt hatte, wo Lucien sich befindet, schneller atmend vor einer Tür. Ohne anzuklopfen, öffnete sie diese.
Sie hatte wirklich mit vielem gerechnet, sogar damit, ihn auf einem der Damen des Hauses zu erwischen. Doch stattdessen sah ein vollständig bekleidetes Mädchen überrascht von dem lädierten Gesicht Luciens zu Talin auf. Der Blick der Blonden huschte für einen Augenblick zwischen den beiden hin und her, bevor sie kurz unschlüssig an ihrer Unterlippe knabberte. Die beiden schienen ins Gespräch vertieft gewesen und sein und fast wäre sie rot geworden, weil sie das Gefühl hatte, zum falschen Zeitpunkt gekommen zu sein. Doch das Schamgefühl wollte sich nicht einstellen, weil sie dafür wohl zu verzogen war.
Schließlich schloss sie die Tür und trat mit gerunzelter Stirn näher an den Sessel heran, auf dem ihr Bruder saß. „Was ist passiert?“, fragte sie, als sie neben der Armlehne in die Hocke ging und sein Gesicht musterte.


Lucien bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken, bei dem sich die Platzwunde an seiner Lippe nur wieder geöffnet hätte, tat dem Mädchen aber nicht den Gefallen, auf ihr zweifelndes Geräusch einzugehen. Angesichts der Blessuren, die er sich von seinem Vater eingehandelt hatte, waren Veilchen und schmerzende Kiefer zu verkraften. Nichts, was nicht von selbst heilte. Und erst, wenn sich etwas anderes abzeichnete, würde er sich überlegen, ob er einen Arzt aufsuchte. Oder wahlweise Gregory.
Rikka seufzte schließlich, wusch ihm mit umsichtigen Bewegungen das Blut von Mund und Braue und tauchte das Tuch wieder ins Wasser, um im Anschluss mit vorsichtigem Tupfen das blaue Auge zu kühlen. Lucien hörte, wie sie Luft holte, wie sie dazu ansetzte, etwas zu sagen. Doch gerade in diesem Moment öffnete sich mit einem leisen Knarzen die Tür zum Baderaum und jemand trat ein, brachte die Kurtisane dazu, in ihrer Bewegung inne zu halten.
Blinzelnd öffnete der Dunkelhaarige die grünen Augen, sah auf und erkannte mit einem Anflug von Überraschung seine unschlüssig verharrende Schwester. „Talin.“ Eine ziemlich unnötige Feststellung, die allerdings auch den Hauch einer Frage enthielt. Sie wirkte außer Atem, als wäre sie hier her gerannt. Wirkte verdutzt, als hätte sie damit gerechnet, etwas ganz anderes vorzufinden. Hatte ihr irgendjemand erzählt, dass er verletzt worden war? Skadi? Wohl nicht, oder? Aber wie hatte sie dann so schnell davon erfahren?
Als seine Schwester näher kam, schenkte er Rikka ein kurzes Lächeln und bedeutete ihr mit einer Geste, ihn für einen Moment in Ruhe zu lassen. Sie nickte verständnisvoll, stand mit Tuch und Wasserschüssel auf und durchquerte den Raum, um auf einer an der Wand stehenden Kommode den Stoff in aller Ruhe auszuwaschen. Lucien wandte sich derweil Talin zu, die neben ihm in die Hocke gegangen war. Das Lächeln auf seinen Lippen vertiefte sich ein wenig, wurde sanfter. „Nichts schlimmes. Skadi und ich hatten nur... eine ziemlich ereignisreiche Nacht.“ Er hob nun selbst die Hand, fuhr sich flüchtig mit den Fingerspitzen über die Wunde an seiner Lippe und prüfte mit einem kurzen Blick, ob sie noch blutete. Nur noch ein wenig.


Sie konnte sich nicht recht entscheiden, ob sie ihn oder das Mädchen ansah. Letztlich folgte ihr Blick dem Mädchen, wie sie sich entfernte und den Stoff auswusch, mit dem sie Lucien behandelt hatte. Nachdenklich knabberte Talin auf ihrer Unterlippe herum, als ihr Bruder ihre Aufmerksamkeit wieder einforderte. Ihr Blick glitt zu ihm zurück und suchend huschte er über Luciens Gesicht, nahm jede Kleinigkeit in sich auf. War er schlimm verletzt? Sollte sie lieber Gregory holen und ihn die Wunden ansehen lassen? Wahrscheinlich war es das Letzte, was Lucien jetzt wollte. Und ganz so schlimm sah die aufgeplatzte Lippe auch nicht aus, darüber war sie ziemlich froh.
Ein kleines Bisschen entspannte sie sich wieder, bemerkte aber, wie die Skepsis nicht aus ihrem Blick weichen wollte. Er hatte eine ereignisreiche Nacht hinter sich? Ihre Augenbraue huschte ein wenig in die Höhe. Sie hob die Hand und strich sacht über die Wunde, erkannte dass diese noch blutete, und zog die Hand besorgt zurück. „Wenn ich an eine ereignisreiche Nacht denke, dann sind da eher zerrissene Laken und zerkratzte Körper, als aufgeplatzte Lippen im Spiel.“ Ein leiser Laut ließ Talin sich der Hure zuwenden, die sie räusperte, um ein belustigtes Lachen zu kaschieren. Die Blonde gab wenig darauf, was das Mädchen dachte und wandte sich deshalb wieder Lucien zu. „Was also habt ihr gemacht, wenn euch nicht im Heu oder sonst wo gewälzt?


Die Bewegung ihrer Hand, die sich seinem Gesicht näherte, ließ Lucien den Blick von seinen eigenen, Blut beschmierten Fingern heben. Er zuckte bei ihrer Berührung nicht zusammen, trotzdem wich Talin recht rasch von selbst zurück. In ihren Augen erschien ein skeptischer Ausdruck, der Lucien nicht entging. Betont noch durch eine Braue, die langsam in die Höhe wanderte und ihn zum Schmunzeln brachte.
Rikka stieß im Hintergrund ein leises Prusten aus und auch über seine Züge huschte nun noch deutlichere Belustigung. „Kommt ganz drauf an, was einem so gefällt, würde ich sagen. Würde es dich denn sehr stören?“ Noch während ihm die ohnehin rhetorische Frage über die Lippen huschte, fühlte Lucien sich an jenen Abend des letzten Frühlingsfestes auf Kelekuna erinnert, an dem er Sara hatte abblitzen lassen. Und mehr als deutlich erinnerte er sich an die Schadenfreude in Talins Blick, als sie davon erfuhr. Ein Verhalten, das er bei ihr viel weniger als kindisch, sondern als geradezu hinreißend empfand. Aber er war in diesem Sinne auch nie besonders objektiv gewesen. Nein... wahrhaftig nicht.
Mit einem leichten Kopfschütteln revidierte er die von ihm selbst aufgestellte Vermutung gleich wieder, zwischen ihm und Skadi würde irgendetwas laufen, und setzte zu einer – zugegeben eher spärlichen – Erklärung an. „Nein, wir waren.. auf dem Schwarzmarkt. Dort gibt es eine recht aktive Szene für Untergrundkämpfe.


Das Bedürfnis, sich gegen die Stirn zu schlagen, rang mit der Sorge um Lucien. Das allerdings sowohl er, als auch das andere Mädchen über ihre Worte lächeln mussten, verstärkte das erste Gefühl. Natürlich war Talin durchaus bewusst, dass man, nachdem man sich im Heu gewälzt hat, eine aufgeplatzte Lippe haben konnte. Manche mochten es eben etwas rauer und stürmischer - oder auch gewalttätiger. Deshalb kniff die Blonde für einen Moment die Augen fest zusammen, weil sie sich über ihre Worte ärgerte. Dass Lucien es auch noch kommentieren musste, machte das Ganze nicht viel besser. Doch sie konnte sich ja schlecht vor ihm verstecken, indem sie nur ihre Augen vor ihm verschloss. Deshalb schlug sie diese schließlich wieder auf und sah nur leicht peinlich berührt zu ihm auf, wobei ihr Blick wie von selbst wieder seine Verletzungen streifte.
Seine Erklärung für diese fiel allerding viel sparsamer aus, als sein Witz, den er gerade noch auf ihre Kosten gemacht hatte. Talins Augenbrauen wanderten noch ein Stückchen weiter nach oben. „Eine aktive Szene für Untergrundkämpfe...“, wiederholte sie seine Worte, bevor sie das andere Mädchen im Raum plötzlich ansah. „Was meinst du, wie viele bei diesen Kämpfen schon umgekommen sind...?“, süßlich fragend, sah sie das Mädchen an, die unangenehm berührt auf ihren Füßen wippte, als wüsste sie, dass etwas in der Luft lag. Es sollen schon einige dabei umgekommen sein, erklärte sie schließlich und die Blonde lächelte sie an, während sie ihr mit einem Nicken zu verstehen gab, dass sie den Raum verlassen sollte. Erst nachdem die Tür hinter Rikka ins Schloss fiel, funkelte sie Lucien nach einem angespannten Schweigen an. „Wie kannst du nur so leichtsinnig sein?!?! Dir hätte sonst was passieren können!


Schon als Talin sich Rikka zuwandte und mit einer Tonlage nachfragte, die Lucien nur zu gut kannte, verdrehte der Dunkelhaarige die Augen. Seine Schwester bekam davon nichts mit, doch als sie sich wieder ihm zuwandte und die junge Kurtisane den Raum verließ, stieß er ein genervtes Seufzen aus, dass die Blonde durchaus mitbekommen durfte. So viel zu hinreißend, das hatte sich damit auch schon wieder erledigt.
Der Blick, mit dem er Talins Züge maß, verriet einen Anflug von Ärger. Allerdings reichte es noch nicht, um ihn wirklich aufbrausen zu lassen. „Willst du mir jetzt einen Vortrag über die Gefahren bei einem geregelten, mehr oder weniger ehrlichen Faustkampf halten? Du, die du dich mit ein paar Spinnern auf ein Marineschiff geschlichen hast, bei dem dir sonst was hätte passieren können?“ Ganz bewusst ahmte er ihre Stimme nach, schüttelte dann den Kopf und ließ die Hände auf die Armlehnen sinken. „Diese Kämpfe sind nicht gefährlicher, als eine Kneipenschlägerei, und nach so einer würdest du mir auch keine Szene machen. Ich hab vielleicht ein bisschen was abbekommen, aber dabei lässt sich gutes Geld verdienen.“ Die meisten starben wahrscheinlich nur, weil sie dabei erwischt wurden, wie sie bei den Wetten beschissen oder ihre Schulden nicht zahlten. Und er hatte nicht vor, sich erwischen zu lassen.


Offensichtlich ging die Anspannung, die in der Luft lag nicht nur von ihr aus. Ob sie darauf durch sein genervtes Seufzen oder seinen verärgerten Blick kam... nun darüber musste sie nicht groß nachdenken. Bei seinen Worten, die sie an die Ereignisse auf der Morgenwind erinnern sollten, biss sie die Zähne fest zusammen, weigerte sich so einfach nachzugeben, obwohl sie wusste, dass Lucien durchaus recht hatte. Es war gefährlich gewesen mit so wenigen Leuten ein Marineschiff zu überfallen und noch dazu, ohne einen ausgetüftelten Plan. In Ordnung, es war bescheuert gewesen und ja, sie musste Lucien recht geben, dass die Ringkämpfe sehr wahrscheinlich sicherer waren, als dieses Abenteuer. Aber konnte er sie denn nicht verstehen? Wenn sie sah, wie er verletzt wurde, wie erst letztens auf dieser Insel voller Kopfgeldjäger, dann fraß die Besorgnis sie fast auf. Immer wieder ging ihr dann nur durch den Kopf, dass sie ihn verlieren könnte. Wieder einmal. Und diesmal vielleicht für immer. Den Gedanken konnte sie nicht ertragen. Und deshalb machte sie aus einer Mücke eine Menschenfressende Pflanze. Sie übertrieb in ihrer Besorgnis maßlos. Mit einem zerknirschtem Gesichtsausdruck sah sie Lucien wieder ins Gesicht berührte sanft seinen Oberarm. „Verzeih mir. Ich hab überreagiert. Du hast recht, es ist nicht gefährlicher als einer Kneipenschlägerei. Ich...“, sie biss sich auf die Unterlippe, „ich habe einfach nur Angst dich zu verlieren. Für immer. Deshalb reagiere ich so. Sieh es mir ein wenig nach, ja?

Ihr zerknirschter Gesichtsausdruck ließ ihn doch wieder weicher werden. Bei allen Welten, wie abhängig war er nur von ihren Worten, ihrem Gemütszustand und ihren Gefühlen. Nur eine Regung von ihr und er reagierte sofort. Sie hatte ihn wirklich vollkommen in der Hand.
Lucien stieß ein ergebenes Seufzen aus, schüttelte in einer beschwichtigenden Geste den Kopf und sah dann wieder lächelnd zu ihr auf. „Schon gut, ich... Es ist ja nicht so, als würde es mir anders gehen.“ Er sah Talin einen Moment lang einfach nur an, neigte leicht den Kopf und hob schließlich mit einem sanft amüsierten Lächeln die Hand, um ihr sacht über die Wange zu streichen und eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr zu verbannen. „Aber wir sollten es nicht so weit kommen lassen, den anderen dafür zu verurteilen, sich in Gefahr gebracht zu haben, findest du nicht? Denn wenn ich das richtig sehe... ist das ab jetzt unser Leben.“ Er ließ die Hand an ihrer Wange und der Ausdruck in den tiefgrünen Augen wurde noch ein wenig weicher. „Das ist das Leben einer Meisterfechterin auf der Jagd nach Drachen, Mahlströmen und Meerjungfrauen.“ Er schmunzelte leicht. „Keine anständige, brave Arbeit für dich und mich. Nicht mit der Marine im Nacken. Uns bleibt also nicht viel mehr übrig, als Leute auszurauben und ein paar Wetten zu manipulieren. Und uns in Gefahr zu bringen.


Sie sah in seinen Augen, dass sie ihn hatte besänftigen können und er wie Wachs zwischen ihren Händen schmolz. Der Teil in ihr, der durch und durch kindliche kleine Schwester war, der es liebte, die ganze Aufmerksamkeit ihres Bruders zu besitzen, grinste sehr zufrieden. Der Teil, der schon älter war und sich dafür schämte, dass sie so egoistisch ihrem Bruder gegenüber war, lächelte nur aus Erleichterung, dass er ihr offensichtlich vergeben hatte und schämte sich ein wenig für den kindlichen Teil, der so schnell nicht zu verschwinden schien.
Allerdings wollte Talin ihren Bruder ihre Gedanken nicht sehen lassen, weshalb sie die Augen schloss und sie ihn das federleichte Streicheln ihrer Wange schmiegte. Seine Worte brachten sie zum Schmunzeln, in dem ein Hauch Zufriedenheit mitschwang bei dem Gedanken, dass er sie auch nicht verlieren wollte. Aber auch die Tatsache, dass er vollkommen Recht hatte, ließ sie Lächeln. Sich in Gefahr zu bringen, gehörte jetzt zu ihrem Leben. Er war es ja nicht allein, der sich solchen Risiken aussetzte. War nicht sie es gewesen, die mit Ryan in eine Villa eingebrochen war, um dort so viel Schmuck wie möglich zu stehlen? Und dann eben die Sache mit der Morgenwind...ja, Lucien hatte recht. Sie begaben sich in Schwierigkeiten so oder so.
Das blonde Mädchen seufzte leise und öffnete wieder die Augen, lehnte den Kopf an Luciens Oberschenkel und blickte zu ihm hoch. „In Ordnung. Du hast ja recht. Ich werde versuchen, mir nicht übermäßig Sorgen zu machen, wenn du in Gefahr bist. Oder verletzt. Oder auch nur ein bisschen verwundet. Ich werde einfach nicht mehr überreagieren. Aber dafür brauche ich ein wenig Zeit.“ Sie lächelte ein wenig. „Aber wieso sollte ich mir über einen heldenhaften Drachenjäger Sorgen machen müssen, nicht wahr? Drachenjäger tötet nichts so schnell.


Im ersten Moment entlockten ihre Worte dem Dunkelhaarigen ein Schmunzeln, das jedoch rasch ernüchterte, während sie weiter sprach. Ein kleines Lächeln blieb, in sich gekehrt, melancholisch, und Lucien wandte den Blick zur Seite, um Talin nicht ansehen zu müssen. „Ja, richtig“, erwiderte er mit einem leisen Seufzen in der Stimme. Wobei er nicht wirklich nach Zustimmung klang. Dieses Kind war er nicht mehr und er fühlte sich auch nicht mehr so unverwundbar, wie damals. Im Gegenteil. Letzte Nacht war er ein paar sehr unnötige Risiken eingegangen, die ihn durchaus hätten umbringen können. Aber das war nichts, was er seiner Schwester jetzt unter die Nase reiben würde. Überhaupt würde er ihr die Details dieses nächtlichen Ausflugs ersparen.
Mit einer etwas unwirscheren Geste fuhr Lucien sich mit der Hand durch die Haare, zwang das Lächeln wieder auf seine Lippen und warf Talin einen Seitenblick zu, bevor er an ihr vorbei zu einem kleinen Beistelltisch nickte, auf dem Rikka das Frühstückstablett abgeladen hatte. „Gibst du mir ein bisschen was von dem Käse da drüben? Ich hab das Gefühl, ich verhungere gleich.


Talins Augenbrauen schossen in die Höhe, als Lucien ihrem Blick auswich. Sie öffnete schon den Mund, schloss ihn dann aber wieder und senkte den Blick. Es zerriss ihr das Herz, zu erkennen, dass das Leuchten aus seinen Augen verschwunden war. Das der Wunsch, als Drachenjäger in die Geschichte einzugehen, nicht mehr in ihm brannte. Er ließ es sich nicht anmerken, dass ihre Worte ihn verletzt hatten und sie konnte sich auch nicht vollkommen sicher sein, aber würde er noch an all das glauben, was sie seit ihrer Kindheit planten, dann würde er auch anders reagieren. So aber verfluchte sie diejenigen, die das Strahlen ihres Bruders gestohlen hatten, auch wenn es ein kindischer Gedanke sein mochte.
Eine erahnte Bewegung im Augenwinkel ließ Talin wieder aufblicken und sie hob die Hand, um Lucien an der Wange zu berühren, als dieser lächelte. Sie wollte ihm sagen, dass er sie nicht anlächeln musste, dass er sich zu nichts zwingen sollte, was er nicht wollte, aber sicher sein, ob er sich wirklich dazu durchringen musste, da konnte sie auch nicht sicher sein. Stattdessen ließ sie mit einem kleinen Zucken ihrer Mundwinkel die Hand wieder sinken und nickte. „Wir wollen ja nicht, dass du verhungern musst.“ Behände erhob sie sich wieder und während sie nach dem Käse griff, fiel ihr wieder ein, weshalb sie eigentlich hierher gekommen war.
In der Hand einen Teller mit Käse und einigen Trauben ging sie zu ihrem Bruder zurück und ließ sich vor ihm wieder auf den Boden sinken. Während sie ein paar Scheiben vom Käse abschnitt, meinte sie wie beiläufig: „Ich habe mich vor kurzem mit Shanaya unterhalten. Nachdem sie die ganze Zeit in ihrem Zimmer eingesperrt ist, um sich zu erholen, hatte sie ein wenig Gesellschaft nötig. Und rate, wen ich da früh morgens habe aus dem Zimmer schleichen sehen..“ Mit dem Teller zusammen hob sie den Blick und lächelte ihren Bruder frech an.


Als Talin sich erhob, wurde sein lächeln ehrlicher. Er folgte ihr mit dem Blick, bis sie mitsamt Tablett zu seinem Sessel zurückkehrte und sich wieder auf den Boden davor sinken ließ. Dann beugte er sich langsam vor, verzog nur kurz das Gesicht, als die verkrampften Muskeln und Prellungen protestierten, und stützte die Ellenbogen auf die Knie, um das Kinn schließlich auf seine Hände zu betten und abzuwarten, bis sie den Käse in kleine Stückchen geschnitten hatte.
Doch als sie erneut das Wort ergriff, hob er den Blick zu ihrem Gesicht. Der Themenwechsel überraschte ihn zwar, kam ihm allerdings auch ganz recht. Keine überbehütende Szene und keine unangenehmen Anspielungen auf ihre Kindheit, obgleich er ziemlich genau zu ahnen schien, worauf sie dieses Mal hinaus wollte. Dass sie bei dem dreisten Grinsen, das sie ihm schenkte, zumindest nicht auf Enrique anspielte, war ziemlich eindeutig.
Lucien verkniff sich ein ausgewachsenes Grinsen – es war mehr ein halbes, gespielt provokantes – und tat unbedarft. „Über mangelnde Gesellschaft kann sie sich nun wirklich nicht beschweren. Ich könnte jetzt raten, aber es kommt natürlich ganz drauf an, wann du bei ihr warst. Könnte Greo gewesen sein, oder Enrique. Vielleicht hast du auch mich gesehen? Wobei ich mich dann natürlich frage, warum meine kleine Schwester sich im Schatten versteckt und mir nicht mal guten Morgen wünscht.“ In den tiefgrünen Augen blitzte hintergründiger Schalk auf, während er sich beiläufig ein Stück Käse vom Teller nahm, ohne den Blick von Talin zu lösen.


War es falsch von ihr zu sagen, dass sie ihn hasste? Also, eigentlich war sie davon ausgegangen, dass sie ihren Bruder niemals würde hassen oder verabscheuen können und ihr Grinsen war eh darauf ausgelegt gewesen, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Aber dass Lucien sie jetzt provozieren musste, indem auch er sie angrinste. Ja, doch, sie hasste ihn und gestand sich dabei nicht ein, dass sie selbst schuld war. Stattdessen verdrehte Talin die Augen und schnaubte, als sie ihm schließlich den Teller mit dem zerkleinerten Käse und den Trauben reichte. „Ja, ja, sie ist wirklich sehr gefragt.“ Noch mal schnaubte sie, sah zwar den Schalk in den Augen ihres großen Bruders, doch schmollte fast lieber wie die kleine Schwester, die sie war, dabei zuckten ihre Mundwinkel aber dennoch verdächtig. Sie rückte wieder ein wenig näher an Lucien heran und betete ihr Kinn auf seinem Oberschenkel. Natürlich vorsichtig, für den Fall, dass er auch da Wunden hatte, die sie nicht sehen konnte. „Also wenn ich dich gesehen habe, dann habe ich dir vielleicht deshalb keinen Guten Morgen gewünscht, weil ich überrascht gewesen wäre, dass du über Nacht bei ihr bleibst und mich dann doch frage, was das zu bedeuten hat. Und wie weit ihr schon gegangen seid.“ Sie sah von dem Teller in die grünen Augen ihres Bruders. Ihre Gefühle fingen an, wie die See bei leichtem Wind, zu rauschen, aber nach Außen hin blieb sie ruhig. Sie konnte ja einmal lernen, nicht alles gleich zu überdramatisieren. „Magst du sie?

Mit einem Vergnügten Ausdruck in den tiefgrünen Augen neigte Lucien den Kopf auf die Seite und schob sich dabei das Stückchen Käse in den Mund. Schmollte sie etwa?
Er schwieg mit einem kleinen Schmunzeln auf den Lippen, beobachtete seine Schwester dabei, wie sie ein wenig näher rückte und das Kinn auf seinen Schenkel bettete, um zu ihm hinaufsehen zu können. Der Dunkelhaarige begegnete ihrem Blick und fühlte sich für einen Moment an eine andere Zeit, einen anderen Ort und an einen anderen Lucien erinnert. Als das Verhältnis zwischen ihm und seiner Schwester noch nicht so verworren gewesen war. Als er sich durch die Betten der Mädchen ihrer Heimat geschlafen hatte. Und auch damals hatte sie geschmollt. Geschmollt und gespottet, weil er sich nie an eine von ihnen hatte binden wollen. In der Gewissheit, dass immer sie es sein würde, an deren Seite er blieb. Niemand sonst.
War ihr das auch jetzt noch klar? „Du willst wissen, ob ich mit ihr schlafe“, stellte er nüchtern fest und angelte sich eine Weintraube von ihrem Teller. Sein Blick folgte dabei seiner Bewegung, um ihr zumindest das Gefühl zu geben, dass er welche Reaktion auch immer auf diese Worte nicht mitbekam. Denn er fuhr nahtlos fort: „Ja, ich habe mit ihr geschlafen. Ich meine, nicht in der Nacht, in der ich bei ihr im Zimmer war, aber eine Weile davor. Und ja, ich mag sie.
Nun sah er Talin doch wieder an. Das zuzugeben fiel ihm sichtlich nicht schwer. Es sprach aus seiner Sicht nichts dagegen, Shanaya zu mögen und mit ihr zu schlafen. Außer... außer vielleicht... „Aber es hat nichts zu bedeuten.


Für einen Augenblick verzog sie noch einmal verstimmt die Mundwinkel nach unten, als er ihr so direkt sagte, dass er mit Shanaya geschlafen hatte. Dass er sie dabei nicht ansah, machte es nicht viel besser. Sie wollte, dass er sah, wie wenig ihr das Ganze gefiel. Und vor allem wollte sie ihm am liebsten an den Kopf werfen, dass sie ihn offen gefragt hätte, ob er mit der Dunkelhaarigen geschlafen hat, wenn es das gewesen wäre, was sie hätte wissen wollen. Aber im Prinzip wäre es am Ende eh darauf hinaus gelaufen, als konnte sie es ihm nicht vorwerfen, was sie fast noch wütender machte. Aber unter diesem ganzen Gefühl der Verstimmtheit lauerte er kleiner Teil Angst und Unbehagen. Sie konnte nicht recht sagen, was ihr weniger gefiel. Die Tatsache, dass Lucien wieder mit einer Freundin von ihr geschlafen hatte oder dass er sie mochte. Kindisch, in der Tat, aber die Angst davor von dem einzigen Menschen verlassen zu werden, überwog das Gefühl der Rationalität bei weitem. Die aufgepeitschte See in ihr wurde unruhiger, rumorte und drohte sie zu verschlucken und sie wollte nichts weiter, als sich die Ohren zu zuhalten, um nichts mehr davon zu hören.
Stattdessen schloss Talin die Augen und versuchte sich daran zu erinnern, dass sie keine zehn Jahre mehr alt war und sie es hier mit Shanaya und nicht Sara zu tun hatte. Shanaya, deren Gefühle man inzwischen an der Nasenspitze ablesen konnte, die aber selbst zu begriffsstutzig war, um diese Gefühle zu erkennen. Und die Shanaya, die ihr das Versprechen gegeben hatte, niemals Lucien über die Blonde zu stellen.
Ach, Brüderchen...“ Talin stieß einen Seufzer aus, der einen Großteil ihrer Unruhe mit sich nahm, obwohl es in ihr immer noch ein wenig brodelte und nagte. Sie würde dieses Gefühl wohl nie ganz loswerden können. „Heißt nicht schon die Tatsache, dass du sie magst, dass es etwas bedeutet?“ Talin sah zu ihm auf und lächelte leicht. „Du hast mit so vielen Mädchen geschlafen und ja einige von ihnen hast du gemocht, aber du wusstest, du würdest nicht lange genug bei ihnen bleiben oder sie überhaupt wiedersehen. Und die Mädchen im Dorf  hast du damals öfter gesehen, konntest sie aber nicht leiden. Shanaya ist...Shanaya magst du und du siehst sie jeden Tag, immer wieder für die nächsten Jahre. Wie kannst du mir sagen, dass das nichts zu bedeuten hat?


Er sah ihr dennoch an, dass es an ihr nagte. Auch wenn Talin nach außen hin ruhig blieb, ein Lächeln zur Schau trug. Nur, was genau es war, woran sie sich störte, konnte er nicht sagen.
Ceallaghs Andeutungen kamen ihm in den Sinn. Die Erinnerung an ein anderes Mädchen, das Talin einst als Freundin bezeichnet hatte. Aber das war nicht das Gleiche gewesen. Sara hatte es nie ehrlich mit der Blonden gemeint. Seine Schwester war nur ein Vorwand gewesen. Bei Shanaya war er sich beinahe sicher, dass sie Talin ernsthaft mochte. War es also das, was sie so unruhig machte?
Lucien stieß nun seinerseits ein leises Seufzen aus. Ahnungslos, wie er ihr diese Sorge nehmen sollte. Vor allem, weil sie sich so sicher schien, dass hinter seiner Beziehung zu der Schwarzhaarigen noch mehr steckte. Sein erster Impuls war, ihr zu widersprechen. Denn diese kleine Liebelei bedeutete ihm tatsächlich nichts. Es bedeutete ihm nie etwas. Sex war etwas, womit er sich ablenkte. Etwas, das ihn vergessen ließ und vom Nachdenken abhielt. Wie eine volle Flasche Rum. Aber er ahnte, dass das Talin nicht überzeugen würde. Vor allem, weil sie in einem Punkt durchaus Recht hatte: Dass er die junge Navigatorin mochte, war tatsächlich ungewöhnlich für ihn. Er mochte sie zumindest so weit, dass er sich um sie sorgte. Dass er wütend auf sie wurde, wenn sie sich unvernünftig verhielt. Dass ihm etwas daran lag, ob sie glücklich war, oder nicht.
Unwillkürlich hob er die freie Hand und rieb sich über die Augen. „Also schön, ja, bei ihr ist es anders, als sonst. Ich mag sie, als gute Freundin.“ Der Dunkelhaarige hob den Blick, suchte den seiner Schwester und lächelte flüchtig. „Und vermutlich werden wir noch eine ganze Weile zusammen unterwegs sein. Und vielleicht auch miteinander schlafen. Aber mehr auch nicht. Es steckt nichts dahinter, keine Erwartungen, keine Verpflichtungen.“ Ganz bewusst wählte er diese Worte, vermied jenen einen Satz, von dem er wusste, dass er Talin nur wütend machen würde. Das Argument, das sie ihm nicht ausreden konnte, weil er mit ganzem Herzen dahinter stand. Doch dieses Gespräch driftete gefährlich in eben diese Richtung. Er beschloss also, den Spieß umzudrehen. „Was ist mit dir? Du magst sie, richtig? Ist sie für dich eine Freundin?
Sie musste wirklich lernen, ihre wandernde Augenbraue besser in den Griff zu bekommen. Er sollte ihre absolute Skepsis über seine Worte nicht sehen. Freunde? Keine Erwartungen? Keine Verpflichtungen? Nicht mehr als nur Sex? Oh nein, er sollte ihre Skepsis über seine Worte wirklich nicht sehen, er sollte sie ruhig spüren. Talin sprang auf und begann, auf und ab zu laufen, um ihren Frust über seine Sturheit irgendwie Luft zu machen. Aufgebracht fuhr sie sich mit beiden Händen durchs Haar – selbst das sonst so beruhigende Klingen der Glöckchen beeinflusste sie nicht. Schließlich blieb sie vor ihrem verwundeten Bruder stehen und stemmte ihre Hände in die Hüften, bevor sie mit blitzenden Augen auf ihn hinunter sah. „Ich würde so weit gehen und sie als eine Freundin bezeichnen ja. Und du weißt, dass mir nur wirklich eine Person in allen Sieben Welten wichtig ist.“ Eine kurze Handbewegung in der Luft, um ihm zu zeigen, dass sie zwar ihn meinte, ihm aber im Moment damit sicher nicht schmeicheln wollte. Stattdessen ließ sie die gleiche Hand vorschnellen und pieckste ihn in die linke Schulter. „Aber - und das ist ein wirklich große Aber – ich muss dir wirklich sagen: Du bist ein Arschloch, Lucien!“ Sie stieß fast schon empört die Luft aus. „Es ist nur Sex? Keine Erwartungen und keine Verpflichtungen? Nur...Freunde? Hast du das Shanaya denn erzählt? Weiß sie, dass sie sich keine Hoffnungen zu machen braucht und dass sie am Ende nur ein Schulter klopfen abbekommt? Dieses Mädchen ist bis über beide Ohren in dich verliebt! Und egal wie stark sie tut, sie wird es nicht so sehen können, wie du!“ Sie schnappte nach Luft, atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Als sie diese wieder öffnete, konnte sie ihn ein wenig ruhiger ansehen, aber nicht wieder vor ihm in die Hocke gehen, soweit war sie noch nicht.
Sie ist gerade einmal so alt wie ich, Lucien und sie kommt mir in manchen Dingen unglaublich blauäugig vor. Ich weiß nicht, wie gut sie es verkraften wird, egal was sie dir sagt, wenn du sie weiter so behandelst. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass du das auch weißt. Nimmst du das dennoch alles in Kauf?


Womit auch immer er gerechnet hatte – dass er sie mit seinen Worten so aufbrachte, war es jedenfalls nicht gewesen. Irgendwie war ihm schon klar, dass sie sich nicht beschwichtigen lassen wollte. Dass sie ihm vielleicht nicht einmal glaubte. Doch als Talin aufsprang, zuckte Lucien tatsächlich verblüfft zusammen. Blinzelnd sah er ihr nach, wie sie sich abwandte, sich die goldenen Locken raufte und im Zimmer auf und ab zu marschieren begann.
Er schüttelte den Kopf, vertrieb seine Überraschung. Seine Schwester blieb vor ihm stehen, wie eine kleine, wütende Naturgewalt, rief seine Aufmerksamkeit zur Ordnung – bevor nun seinerseits eine Braue in die Höhe wanderte. Dass ihre ersten Worte nicht als Kompliment gedacht waren, wurde spätestens nach ihrem Luftholen deutlich. Er war also ein Arschloch. In Ordnung, gut möglich. Das war nicht unbedingt eine Einschätzung, die er nicht akzeptieren konnte. Viel mehr überraschte ihn allerdings, dass er sich offenbar geirrt hatte, was Talins Beweggründe anging. Die Gründe dafür, weshalb sie ihn zu seiner Liebelei mit Shanaya ausfragte. Denn das, was sie ihm entgegen schleuderte, klang ganz und gar nicht mehr danach, als fürchtete sie, durch ihn eine Freundin zu verlieren.
Du machst dir Sorgen um sie, nicht um dich, oder?“ Er überging diesen einen, kleinen Satz, dass die junge Navigatorin in ihn verliebt sei. Er ignorierte auch die kleinen, feinen Andeutungen, die ihm bei diesen Worten unwillkürlich aus dem Gedächtnis aufstiegen. Denn was ihn in diesem Moment am meisten wunderte, war, dass Talin Shanaya vor ihm beschützte. Dass sie ihm vorwarf, er würde ihr früher oder später das Herz brechen. Dass sie es ihm vorwarf. Und das war mindestens genauso neu, wie die Tatsache, dass er ein Mädchen wirklich mochte. „Oder glaubst du, wenn ich ihr das Herz breche, richtet sich ihre Wut gegen dich?


In ihr brodelte es, obwohl sie schon so viel von ihrem Ärger hinaus gelassen hatte. Es brauchte wahrscheinlich nur ein falsches Wort von Lucien und sie würde gleich wieder explodieren. Was er dann allerdings sagte, ließ Talin in ihrer Aufgebrachtheit inne halten und ihn verdutzt anstarren. Sie machte sich Sorgen? Ja, ja natürlich machte sie das, eigentlich sogar fast ständig. Aber sie machte sich Sorgen um Shanaya? Sie mochte das Mädchen, tat sie wirklich, aber eigentlich hätte sie niemals gedacht, man könne ihr unterstellen, sich um die Dunkelhaarige zu sorgen. Wenn sie es genau nahm, sorgte sie sich um niemanden, außer um Lucien und sich selbst. Aber Shanaya? „Mach dich nicht lächerlich.“ Kurz davor wieder die Hände in die Luft zu werfen, nahm sie ihre Wanderung wieder auf und knabberte an ihrem Daumennagel, während sie über Luciens Worte nachdachte. Schließlich blieb sie vor ihrem Bruder stehen und sah ihn fast ein wenig verzweifelt an. „Glaubst du wirklich? Glaubst du, ich machte mir Sorgen um sie? Ich bin eigentlich nur frustriert. Weder du noch sie können sich eingestehen, dass ihr mehr füreinander empfindet. Ich meine, ich weiß, dass du sie nicht liebst – denke ich – aber sie bedeutet dir mehr, als du selbst zugibst.“ Sie schnaubte kurz und wurde dann ruhiger. „Ich denke, was mich beschäftigt ist, dass ich es dann ausbaden muss, wenn sie feststellt, dass du sie nicht liebst oder ihr nicht so viel geben kannst, wie sie gerne möchte. Und es wird auch dich belasten. Ist das jetzt Sorge um sie oder nicht doch eher um dich?“ Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

Irgendwie amüsierte ihn ihre Reaktion nun doch mehr, als sie sollte. Ob sie wusste, wie niedlich sie aussah, während sie darüber grübelte, ob in seinen Worten vielleicht ein Hauch Wahrheit steckte? ‚Mach dich nicht lächerlich‘ – Ja, wer gestand sich da die tieferen Gefühle nicht ein, die er ganz offensichtlich hegte? Offensichtlich nahmen sich die Geschwister in diesem Punkt rein gar nichts, wenn es um Shanaya ging. Auch wenn er ehrlich gesagt nicht wusste, was Talin noch von ihm hören wollte. Dass er die Schwarzhaarige durchaus mochte, hatte er zugegeben. Dass er sie nicht liebte, stand außer Frage. Was sollte es dazwischen nun noch geben?
Doch er schwieg mit einem sachten Lächeln auf den Lippen, beobachtete die Blonde noch ein paar Sekunden dabei, wie sie vor ihm auf und ab marschierte und versuchte, ihre Sorgen in Worte zu fassen. Als sie schließlich endlich vor ihm stehen blieb, seufzte Lucien leise und erhob sich, sodass er unmittelbar vor ihr stand, legte ihr vorsichtig beide Hände an die Wangen und begegnete ihrem Blick, hielt ihn fest, damit sie ihm das, was er sagte, auch wirklich glaubte. „Talin“, begann er – sanft, aber bestimmt. „Ob nun um ihretwillen, oder auch ein bisschen um deinetwillen – für mich hört es sich so an, als möchtest du sie beschützen. Und das ehrt dich. Aber sie weiß, worauf sie sich einlässt. Sie wusste es von Anfang an. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass das zwischen uns nichts Ernstes ist. Hör auf, dir einzureden, dass mehr dahinter steckt.“ In einer unendlich zärtlichen, unendlich vertrauten Geste streichelte er mit dem Daumen über ihre Wange und lächelte schuldbewusst. „Ich gebe zu, dass ich nicht bedacht habe, wie es für dich ausgehen könnte. Dass ich einen Fehler gemacht habe, als das mit Shanaya anfing, weil sie deine Freundin ist. Aber wenn du willst, dann rede ich mit ihr.
Dann ist es ihre Entscheidung, ob sie sich weiterhin darauf einlässt, oder nicht. Was meinst du?


Sie war hin und her gerissen, ob sie noch einmal auf und ab lief oder sich vor Lucien hinhockte, um ruhiger mit ihm zu reden. Aber ihr Bruder nahm ihr die Entscheidung ab, als er aufstand und seine Hände an ihrer Wange legte. Für nicht einmal eine Sekunde verkrampfte Talins Körper sich, bis sie sich schließlich entspannte und zur Ruhe kam. Sie konnte nicht den Kopf wenden, um seine Worte nicht zu hören, da er sie festhielt. Stattdessen sah sie die Wahrheit – seine Wahrheit – in seinen Augen. Für ihn stand fest, dass er für Shanaya nichts weiter empfand als mögen. Er verstand nicht, dass es für sie hingegen sehr wohl ein feinere Ebene von Mögen gab. Denn letztlich mochte er sie mehr als die anderen Frauen an Board der Sphinx. Sie wollte mit ihm darüber streiten, aber wenn er es jetzt immer noch nicht verstanden hatte, wie sollte sie mit ihren Worten zu ihm durchdringen?
Talin seufzte und schloss für einen Augenblick die Augen, genoss die Berührung, bevor sie leicht nickte. Es fiel ihr unglaublich schwer, aber sie würde seine Worte akzeptieren können... hoffte sie. „Du redest wirklich mit ihr? Kein leeres Versprechen, du sagst es ihr?“ Selbst sie hörte in diesem Moment eine Spur Besorgnis in ihrer Stimme, also biss sie sich kurz auf die Unterlippe, fuhr dann aber fort. „Ich meine, so wie ich sie einschätze, wird sie sich denken, dass die Gefahr nicht besteht, aber dann weiß ich, dass es selbstverschuldet ist und du nur ein kleines Arschloch bist.“ Sie hob eine Hand und zeigte ihm einen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger, bevor sie sanft über seine Wunde streichelte. „Ich werde vermutlich trotzdem weiterhin der Meinung sein, dass du sie mehr magst als andere, auch wenn es meinetwegen keine Liebelei ist.


Er sah seiner kleinen Schwester an, dass sie nicht überzeugt war. Sie ergab sich mit einem leisen Seufzen, schloss dabei die Augen und nickte. Doch Lucien kannte sie zu gut, um es nicht besser zu wissen. Was auch immer sie zwischen ihm und Shanaya vermutete, sie glaubte fest daran, dass es stimmte. Dass sowohl er als auch die junge Navigatorin nur zu stur waren, sich ihre Gefühle füreinander einzugestehen. Gefühle, die es nicht gab.
Doch er beließ es für diesen Moment dabei. Verzichtete darauf, weiter gegen sie anzureden. Zumindest fast. „Ich verspreche dir, dass ich mit ihr rede, wenn sich die Gelegenheit ergibt“, lenkte er ein. Dass er der Schwarzhaarigen ihren Ausflug in die Stadt nach wie vor nicht verziehen hatte, verschwieg er. Seine Sorge um sie würde Talin nur wiederum als Beleg dafür nutzen, dass Shanaya ihm mehr bedeutete, als er zugab. „Aber wie gesagt: Das ist nichts, was sie nicht längst weiß. Und vermutlich wird sie mir nur das antworten, was du bereits vermutest, nämlich dass diesbezüglich keine Gefahr besteht.“ Ein sachtes Lächeln huschte auf seine Lippen. Halb sanft, halb amüsiert. Nur einen Herzschlag lang erlaubte er sich, ihre Berührung zu genießen, sie nur anzusehen, bevor er sanfter und eindringlicher als gerade eben noch fortfuhr: „Aber dann versprich du mir, nicht in jeder Geste und jeder Kleinigkeit einen Beweis dafür zu suchen, dass du Recht haben könntest, einverstanden?


Ihr Blick war auf seine Wunde gerichtet, aber das hieß nicht, dass sie ihm nicht zuhörte. Ihr fiel auch auf, dass er ein eher halbherziges Versprechen gab, mit Shanaya zu reden. Aber sie gab sich damit zufrieden. Sie würde ihn später einmal danach fragen, wenn er nicht von sich aus auf sie zukam, um ihr über das Gespräch mit der Schwarzhaarigen zu berichten. Von diesen Gedanken lenkten sie schließlich seine nächsten Worte ab.
Talin öffnete für einen Moment den Mund, um seinen Wunsch sofort abzuschlagen. Sie interpretierte doch wirklich nicht in jedes kleine bisschen etwas hinein... unverrichteter Dinge schloss sie den Mund wieder, ließ ihre Hand sinken und wandte halb beleidigt, halb unzufrieden den Kopf von Lucien weg. Er hatte nicht unrecht damit, so ein Versprechen von ihr zu fordern, aber gerade deswegen konnte sie doch sauer sein. Sie schielte zu ihrem Bruder hoch und ließ schließlich doch ergeben die Schultern sinken. „In Ordnung, in Ordnung. Du hast ja recht. Ich verspreche dir, dass ich nicht in jede Kleinigkeit etwas hinein interpretieren werde. Oder zumindest werde ich es nicht laut aussprechen. Ich versuche es. Bist du damit zufrieden?


Ein Fünkchen Belustigung blitzte in den tiefgrünen Augen auf, kaum dass Talin seinem Blick auswich. Auf eine Art und Weise, wie es nur kleine, ertappte Schwestern konnten. Denn ja, sie suchte nun einmal nach Anzeichen, die ihre Theorie untermalten, das konnte sie nicht leugnen. Ob sie nun da waren, oder nicht. Doch er verkniff sich das Lachen, das in ihm aufsteigen wollte, schmunzelte nur über ihre Reaktion und nickte sacht. „Ich werde mich damit zufrieden geben“, antwortete er mit einem Hauch allerdings nur gespielter Resignation in der Stimme, zog Talin ein Stück näher zu sich, um ihr einen sachten Kuss auf die Stirn zu geben.
Schließlich seufzte er leise, ließ Talin damit sanft los und schob die grüblerischen Gedanken zur Seite, die dieses Gespräch trotz allem hinterlassen hatte, damit das Lächeln auf seine Lippen zurückkehrte. Noch einmal strich er seiner Schwester mit einer sanften Geste das Haar hinter ihr Ohr und neigte schließlich den Kopf. „Also... Ich denke, ich lasse den Tag in der Werft heute mal ausfallen. Was meinst du: Hast du Lust auf Theater? Oder hast du schon was Besseres vor?