Inselwelten

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Westward into the unknown
Once and for all the truth will be told
11. Juni 1822 | Nachmittags | Hafen von Silvestre auf der Sphinx


Ganz offiziell waren Soula und Loki nun Mitglieder einer Piratencrew. Das klang noch so absurd und die junge Frau musste sich an diesen Gedanken erst noch gewöhnen. Hätte man ihr vor einem Jahr, als noch alles schön und gut war, gesagt, dass sie sich im nächsten Jahr darüber freuen würde auf hoher See zu sein, dann hätte sie denjenigen schallend ausgelacht. Heute, der Tag, an dem sie das erste Mal auf einem Piratenschiff stand, fühlte es sich absolut surreal an. Wo Loki sich in der Zwischenzeit herumtrieb, wusste sie gar nicht, aber Soula konnte sich vor lauter Neugierde auch nicht mehr zurückhalten, sie wollte das Schiff sehen, mit dem sie in wenigen Tagen in See stechen würde. Sie betrat das Hauptdeck und sah sich aufmerksam um. Einige Crewmitglieder hatte sie schon in der Taverne kennengelernt. Manche kannte sie also so mehr oder weniger. Trotzdem sah sie sich etwas unbeholfen um. Sie kannte sich nicht aus und wollte sich auch nicht alleine alles anschauen, irgendwie kam sie sich sonst wie eine Schnüfflerin vor oder eine Diebin, was sie letztendlich halt auch war.

Endlich würden sie wieder in See stechen! Fast einen ganzen Monat lang hatte der Landgang nun angedauert, und Rayon konnte es kaum erwarten, endlich wieder diese unendliche Freiheit zu spüren, die man nur auf einem Schiff erleben konnte. Noch dazu auf einem Schiff, das so auf Vordermann gebracht worden war wie die Sphinx, die in einem Glanz erstrahlte, den er nie zuvor an ihr hatte bewundern können. Und auch seine Kombüse, sein eigenes kleines Reich, hatte eine Generalüberholung erfahren. Er konnte es kaum erwarten, wieder schwitzend, aber glücklich am Ofen zu stehen und Mahlzeiten für die Crew zuzubereiten, die ihm (größtenteils) so sehr ans Herz gewachsen war.

Gerade hatte er einige Säcke Roggenmehl in den Frachtraum geschleppt und jetzt die Treppe zurück an Bord erklommen. Die Betriebsamkeit auf der Sphinx nahm beinahe stündlich zu, nun, da sie kurz vor der Abfahrt standen, die Vorräte auffüllten und letzte Vorbereitungen trafen. Aktuell jedoch war es relativ ruhig, und nicht zuletzt deshalb fiel ihm die zierliche Person auf, die auf dem Hauptdeck stand und sich etwas unschlüssig umzublicken schien. Ihr Gesicht war ihm zwar fremd, aber er konnte sich durchaus vorstellen, um wen es sich dabei handelte, und steuerte deshalb zielstrebig auf sie zu.

"Soula, schätze ich?", fragte er und schenkte der Frau ein warmes Lächeln.

Mit irgendjemandem verabredet hatte sich Soula nun auch nicht, doch sie war sich fast sicher, dass sie jemanden auf dem Schiff antreffen würde, immerhin war es nun lange in der Werft gewesen und von manchen Crewmitgliedern hatte sie den Eindruck erhalten, dass sie das Schiff auch einfach sehr vermissten. Bald würde es auch ihr zu Hause sein und damit wollte sie sich endlich auseinandersetzen. Einige Namen konnte Soula bereits zuordnen aber alle kannte sie noch nicht. So war es auch bei dem Mann, der sie wohl bemerkt hatte und auf sie zukam. Sie fühlte sich nicht unwohl, auch wenn jemand, der sie nicht kannte vielleicht annehmen konnte, dass sie hier nichts zu suchen hatte. Er kam so zielstrebig auf sie zu und wirkte gleichzeitig sehr offen, sie brauchte sich also nicht fehl am Platz fühlen, noch viel weniger, als sie hörte, dass er bereits ihren Namen kannte. Sein warmes lächeln und sein Auftreten sorgten dafür, dass Soula direkt ein wohliges Gefühl umfing. Sie lächelte ebenfalls und nickte. „Ja richtig. Ich gehöre seit kurzem zu eurer Crew und hoffe mit euch segeln zu können“, meinte sie überflüssigerweise. Sicher wusste er das bereits, wenn er schon ihren Namen kannte, dann hatte er bestimmt auch schon davon gehört. „Ich wollte mich auf dem Schiff ein wenig umsehen und mich damit vertraut machen, aber irgendwie kam ich mir dann doch ein bisschen wie eine Schnüfflerin vor“, meinte Soula dann schmunzelnd. Das erklärte vielleicht auch, warum sie etwas unschlüssig an Deck gestanden hatte. Sie wollte sich weder aufdrängen, noch ihn von irgendwelchen Arbeiten abhalten. „Ich kann aber auch nochmal wiederkommen, wenn ich gerade störe.“ Nicht, dass ein Schiff nicht groß genug war, um sich einigermaßen aus dem Weg gehen zu können, aber sie wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass er sich jetzt um den nervigen Neuzugang kümmern musste.
Der Neuzugang schien sich ein wenig zu entspannen, nachdem Rayon sie angesprochen hatte, auch wenn ihre nachfolgenden Worte nach wie vor darauf hindeuteten, dass sie sich zumindest ein wenig fehl am Platz vorkommen musste. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, dass ein gewisses anderes weibliches Crewmitglied wahrscheinlich kurzerhand das Schiff erkundet, in jede Truhe geschaut und alles genauestens betrachtet hätte, das auch nur ansatzweise interessant aussah. So unterschiedlich konnten Menschen sein.

"Keine Sorge, du störst nicht", erwiderte der Dunkelhäutige, bevor er seine rechte Hand ausstreckte. "Ich bin Rayon. Smutje auf diesem Schiff und damit für dein leibliches Wohl verantwortlich. Wann immer dir der Magen knurrt, bin ich zur Stelle", fügte er lachend hinzu, während er Soula musterte. Sie war sehr jung, vermutlich ungefähr in Shanayas Alter, und ziemlich schlank. Zeichen harter körperlicher Arbeit konnte er ihr zumindest auf den ersten Blick nicht ansehen. Wie so häufig stellte sich ihm die Frage, was geschehen sein musste, um einen Menschen so früh in die Piraterie zu treiben - und in diesem Fall auch noch eine zierliche Frau, die nicht unbedingt so aussah, als könne sie sich bei einem Entermanöver effektiv ihrer Haut erwehren. Andererseits hatte Rayon schon häufig erkennen müssen, dass der Schein bisweilen trügen konnte.

"Die Sphinx ist eigentlich ein Schiff wie jedes andere", sagte er dann, wobei die Zuneigung, die er mittlerweile zu seinem Zuhause auf... äh... Brettern... verspürte, deutlich in seinen Worten mitschwang. "Aber wenn du willst, kann ich dich gerne ein bisschen herumführen. Wir haben die Gute gerade ordentlich auf Vordermann gebracht!" Zur Demonstration seiner Aussage machte er mit dem linken Arm eine ausladende Bewegung in Richtung der frisch geschliffenen Planken und der neuen blutroten Segel.

Es war nicht ihre Absicht in irgendwelchen privaten Dingen zu stöbern. Sie selbst würde das nicht wollen und manchmal lebte Soula sogar nach diesem Prinzip, dass sie sich anderen gegenüber so verhielt, wie sie es auch gerne hätte (aber nur manchmal, denn sie selbst hätte es sicher auch nicht gerne, wenn man ihr Dinge von Wert entwendete, aber das war definitiv etwas anderes!). Soula war schon sehr erleichtert, dass sie ihn  nicht störte, obwohl das oft nur eine Floskel war, um jemanden nicht vor den Kopf zu stoßen. Das lag aber nicht mehr in ihrer Hand. Mehr als anbieten, dass sie wieder ging, konnte sie auch nicht. Rayon, wie er sich dann vorstellte, machte aber auch nicht den Eindruck, als würde er etwas dagegen haben. Vielleicht interessierte ihn auch der Neuzugang, den er bald rund um die Uhr in der Nähe haben würde. Sie drückte Rayons Hand, nicht zögerlich, aber auch nicht mit besonders viel Kraft, wie es ein Mann vielleicht getan hätte. „Freut mich dich kennenzulernen, Rayon“, meinte sie ehrlich und lächelte. Ihren eigenen Namen wiederholte sie nicht nochmal. Dann schmunzelte Soula. „Ist sicher auch nicht einfach eine Mannschaft durchzufüttern mit den Möglichkeiten, die ein Schiff bietet, oder?“, fragte sie interessiert. Tatsächlich fehlte Soula auch an dieser Stelle das entsprechende Wissen dafür.  Kochen auf einem Schiff? Wie funktionierte das, ohne, dass man es auf den Grund des Meeres beförderte? Ja, vielleicht sollte sie das Buch, das sie sich in der Buchhandlung über die Seefahrt besorgt hatte, sehr sehr schnell durchlesen, damit sie keine überaus dummen Fragen mehr stellen musste.
Schon bei der nächsten Aussage, dass die Sphinx ein Schiff war, wie jedes andere auch, lächelte Soula nur. Sie stand gerade das erste Mal auf einem Schiff, sie hatte keine Vergleichswerte. Soula überspielte dieses unangenehme Gefühl, in dem sie auf sein Angebot einging. „Oh ja, das wäre wirklich super“, antwortete sie und nickte. „Aber nur, wenn es deine Zeit zulässt und deine Lust. Ich weiß nicht, ob es so viel Spaß macht Fremden das Schiff zu zeigen.“ Ein Schmunzeln lag auf ihren Lippen und sie musste zugeben, dass sie die Idee ganz gut fand, so konnte sie Rayon auch ein bisschen kennenlernen. Soula konnte diese Crew noch so wenig einschätzen und es waren definitiv keine Piraten, wie sie in Büchern beschrieben wurden. Den Eindruck hatte sie bereits erhalten.

Man merkte schnell, wie wichtig Rayon dieses Schiff war. Ähnlich wie bei Shanaya damals, irgendwie bewunderte Soula das. „Wie lange bist du schon ein Teil der Crew?“, fragte sie neugierig. „Ich habe keinen Vorher – Nachher Vergleich. Aber so wie ihr alle von dem Schiff schwärmt, gibt sie sicher viel her.“ Gut, Soula würde dieses Schiff nie mit ihren eigenen vier Wänden vergleichen können und sie musste noch lernen ihre Ansprüche runterzuschrauben, auch wenn sie behauptete, dass sie das bereits getan hatte. Gefühlt war das hier eben etwas ganz, ganz anderes.
Soulas Frage machte den Schiffskoch für einen Moment stutzig, doch er entschied sich - mehr unbewusst - dazu, dieses Gefühl zu übergehen. Aus welchem Grund auch immer sie sie gestellt hatte, es machte letztendlich keinen Unterschied. Vielleicht suchte sie einfach nur nach einem Gesprächsthema und stellte sich dabei, wissentlich oder unwissentlich, ein wenig unerfahrener, als sie war. Vielleicht war sie auch wirklich unerfahren, oder sie hatte sich schlichtweg bisher nie dafür interessiert, wie genau das Essen auf einem Schiff auf den Tisch kam.

"Das kommt ganz darauf an, wie erfinderisch man ist wie viele verschiedene Zubereitungsarten einfacher Lebensmittel man kennt", antwortete er und zwinkerte ihr vergnügt zu. Da er seine Kochkünste an Land erlernt hatte, war er an Bord eines Schiffes in der Tat ein wenig eingeschränkt in seinen Möglichkeiten, aber die Erfahrung, die er über die Jahre gesammelt hatte, erlaubte es ihm trotzdem, eine gewisse Abwechslung bieten zu können. Außerdem war da natürlich noch seine Geheimwaffe, die Gewürze aus der Heimat und die perfekte Kenntnis ihrer Anwendungsmöglichkeiten, die er den meisten anderen seines Fachs voraus hatte.

Die junge Frau ging bereitwillig auf sein Angebot ein, ihr das Schiff zu zeigen, wobei sie sich abermals äußerst höflich, beinahe schüchtern oder zumindest sehr zurückhaltend gab. Er segelte sicherlich nicht mit den grausamsten, niederträchtigsten, egozentrischsten Piraten der acht Welten, eher im Gegenteil, trotzdem war ihre Art ungewöhnlich - durchaus im positiven Sinne.
"Ich hätte es dir nicht angeboten, wenn ich weder Zeit noch Lust hätte", meinte er lächelnd. "Außerdem ist die Sphinx von nun an dein Zuhause. Da ist es sehr von Vorteil, wenn du dich mit ihr auskennst."

Um etwaige weitere Zweifel an seiner Bereitschaft, ihr das Schiff zu zeigen, aus der Welt zu schaffen, begann er direkt damit und deutete in Richtung Bug auf die kleine Tür in der Mitte des Aufbaus.

"Dort vorne findest du die meisten Utensilien, die wir für die Arbeit an Deck benötigen, und oben auf dem Bugaufbau die beiden Ankerspills. Das große Beiboot hängt an der Backbordseite." Er nickte kurz grob in die Richtung des Bootes und zeigte dann auf die Takelage. "Wir haben hier so gut wie alles erneuert. Die Segel, die Seile und Halterungen, das Schiff ist sogar frisch gestrichen", sagte er und konnte den Anflug von Stolz in seiner Stimme kaum verbergen - dabei war es gar nicht sein Schiff. "Wie du siehst... sonderlich interessant ist es auf dem Hauptdeck nicht." Er grinste, bedeutete ihr, ihm in Richtung Achterdeck zu folgen und setzte sich gemächlich in Bewegung.

"Ich bin jetzt seit ungefähr drei Monaten auf der Sphinx. Vorher bin ich jahrelang an Bord der Sirène gesegelt, einem Freibeuterschiff, aber als Talin nach einer Crew gesucht hat, um ihren Bruder aus den Fängen der Marine zu befreien, bin ich gemeinsam mit Trevor und Gregory auf dieses Schiff gewechselt", erzählte er. "Hast du die beiden zufällig schon kennengelernt?"
Schmunzelnd nickte Soula. Erfinderisch musste man an Deck eines Schiffes wohl wirklich sein und das würde sie auch noch früh genug mitbekommen. Immerhin bereitete sie sich selbst auch in gewisser Weise schon darauf vor so wenig wie möglich mit an Bord zu nehmen, aber auch so viel, wie es ihr nötig erschien. Es gab Momente und Situationen, in denen Soula sehr selbstbewusst und selbstsicher auftrat, dieser hier war nur leider keiner davon. Sie kannte sich mit allem hier nicht aus, es war ihr vollkommen fremd und es würde niemandem etwas nutzen, wenn sie so tat, als wüsste sie alles. Sicher gab es Menschen, denen man etwas vormachte, um sich selbst besser zu stellen. Vor Shanaya gab Soula zum Beispiel ungern eine Schwäche zu, da sie ihr das Gefühl gab, sich aus diesen einen Strick bauen zu wollen. Aber zwischen ‚nicht zugeben‘ und ‚vormachen‘, lag ihrer Meinung nach auch ein himmelweiter Unterschied. Bei Rayon hatte Soula direkt den Eindruck, dass sie ihm nichts vorzumachen brauchte. Sie schmunzelte, denn sie wollte ihm definitiv nicht vorwerfen, dass er mit seinen Worten nicht das meinte, was er tatsächlich gesagt hatte. „Gut, dann kann man sich auf deine Aussagen verlassen, das gefällt mir.“ Es lag nichts negatives in ihrer Stimme und es war eher so, dass sie diesen Charakterzug zu schätzen wusste.

Die Sphinx war nun auch ihr Zuhause, meinte Rayon. Wenn Soula ehrlich war, hatte sie SO von diesem Schiff noch nicht gedacht. Es war für sie eher ein Mittel zum Zweck, um diese Insel zu verlassen. Sie wusste schließlich noch gar nicht, wie lange sie mit segeln würde und mit Sicherheit würde es dauern, bis sie das Schiff, welches keinerlei Komfort besaß, wirklich als Zuhause betrachten könnte. Vermutlich würde sie es vorher als einen Fluch bezeichnen. „Dieses Schiff ist ein Zuhause für dich?“ Kaum vorstellbar für die Veniel, bei ihr würde es wohl deutlich länger dauern, bis sie dieses Gefühl teilen konnte. Trotzdem fand Soula die Ansicht recht interessant.

Ohne weitere Umschweife fing Rayon direkt an ihr das Schiff zu zeigen. Sie würde sich alles so gut es ging einprägen, damit sie in gewissen Zeiten auch wusste, wo sie was fand. Das Holz unter ihren Füßen fühlte sich an, als würde sie auf einer Brücke sein, das Schwanken war für sie allerdings etwas ganz Neues. Soula liebte Herausforderungen und es kribbelte auf ihrer Haut, wenn sie daran dachte, dass sie bald ablegen würden. Hätte Rayon nicht in die Richtung des Beiboots genickt, wüsste Soula nicht, wo denn nun Backbord war. So brachte sie allerdings beides in Verbindung und knüpfte sich so ihr eigenes Wissen zusammen, das sie dann hoffentlich auch zur richtigen Zeit abrufen konnte. „Ja, ich habe die Sphinx schon in der Werft gesehen, als ich das erste Mal mit Lucien gesprochen habe. Aus der Nähe sieht sie aber noch viel beeindruckender aus“, meinte sie und schmunzelte. Es war beachtlich, mit wie viel Hingabe Rayon von dem Schiff sprach, es verpasste Soula einen leichten Schauer auf der Haut. „Ich habe das Gefühl, dass das Schiff einigen Crewmitgliedern sehr am Herzen liegt“, merkte sie deswegen an und lächelte sanft. „Wie kommt es zu den roten Segeln? Haben sie etwas zu bedeuten?“ Es erschien Soula unüblich, auch wenn sie nicht behaupten konnte in ihrem Leben schon sonderlich viele Schiffe gesehen zu haben.

Während sie Rayon zum Achterdeck folgte, fragte sie ihn noch ein bisschen über seine Zeit auf der Sphinx aus. Drei Monate waren nicht sehr lange und das, was Rayon erzählte, klang nach einer nervenaufreibenden Geschichte. „Lucien war ein gefangener der Marine? Wie ist es denn dazu gekommen?“ Soula wollte nicht neugierig wirken, aber… genau das war sie! Bei so einer Geschichte konnte es doch auch gar nicht anders sein. Es war eine, die man abends am Lagerfeuer erzählte und bei der jeder einzelne verstummte, damit der Redner nicht unterbrochen wurde, um jedes Wort für sich einzufangen.

Auf die Frage der Partner musste sie den Kopf schütteln. Weder Trevor noch Gregory hatte sie bereits kennengelernt. „Ich kenne nur ihre Namen, ich habe aber keine Gesichter dazu.“
Erneut bewies ihr neues Crewmitglied, dass sie - wenn überhaupt - noch nicht lange zur See gefahren sein konnte... oder keine große Anhängerin dieses Lebens war... ODER bisher schlichtweg noch kein Schiff gefunden hatte, auf dem sie sich auch nur ansatzweise wohlgefühlt hatte. Für ihn zumindest, und für die meisten Seeleute, denen er im Laufe seines Lebens begegnet war, war es selbstverständlich, sich auf einem Schiff zu Hause zu fühlen. Meist handelte es sich dabei selbstverständlich um das Schiff, auf dem man angeheuert hatte. Und einen nicht unwesentlichen Anteil and diesem Gefühl hatte meist der Umstand, dass zumindest die wenigsten Piraten irgendeinen anderen Ort hatten, den sie ihr Zuhause nennen konnten. Er selbst war da beinahe schon eine Ausnahme. Er hatte nach wie vor eine Heimat auf Rhofala, in der er sogar geliebte Menschen zurückgelassen hatte, und doch war die Sphinx für ihn eenso ein Zuhause wie das Haus, in dem er aufgewachsen war.

"Das ist sie in der Tat", antwortete er schließlich mit kurzer Verzögerung. "Ich meine... ich schlafe hier, ich esse hier, und ich habe vom größten Teil der Crew schon mehr gesehen, als mir lieb ist." Er lachte laut auf. "Das klingt für mich wie ein Ort, den ich Zuhause nennen kann."

Er ließ Soula Zeit, sich die Bestandteile des Schiffes näher zu betrachten und ihre Position einzuprägen. Die meisten dieser Dinge schienen für sie nicht selbstverständlich zu sein, oder sie war sehr an der Individualität der Sphinx interessiert. Da er zumindest nicht in Eile war und nichts gegen ein wenig angenehme Gesellschaft hatte, gab es keinen Grund, ihr diese Gelegenheit zu verwehren.

Als die junge Frau die Segel erwähnte, blickte er kurz nach oben und schmunzelte.

"Nun, eine der ersten Schlachten, die unsere Captains mit der Sphinx geschlagen haben, fand während eines Sturms statt, der so gewaltig war, dass es den Hauptmast zerfetzte. Er stürzte hinab auf das Deck, und das Segel mit ihm. Unbeeindruckt dessen tobte der Kampf weiter, und nach und nach wurden die Segel mit dem Blut der Gefallenen und Verwundeten getränkt."

Er hielt einen Moment inne, um eine dramatische Pause einzulegen, und warf Soula einen bedeutungsschweren Blick zu.

"Als die Schlacht schließlich vorüber und die Crew der Sphinx siegreich war, beschlossen Talin und Lucien, die Segel rot zu färben, um ihrer und der Opfer zu gedenken."

Wieder pausierte er und achtete ganz genau auf die Reaktion der Braunhaarigen, konnte seine ernste Miene jedoch schlussendlich nicht mehr aufrechterhalten. Er kicherte und zuckte mit den Schultern.

"Oder die beiden fanden rote Segel einfach schon in ihrer Kindheit schick. Du kannst selbst entscheiden, welche Geschichte dir glaubwürdiger vorkommt", sagte er vergnügt und zwinkerte ihr zu.

Sie hatten sich dem Achterdeck nun bis auf wenige Schritt genähert und Rayon kam kurz vor der Tür in Richtung Mannschaftsdeck zum Stehen. Soula hatte ihm eine weitere Frage gestellt, die ihn für einen Moment die Stirn runzeln ließ. Er war zwar Geschichtenerzähler, aber die persönlichen Belange bekannter Menschen gab er dennoch nur ungern zum Besten. Auch in diesem Fall hielt er es für unangebracht, Luciens Vergangenheit preiszugeben, selbst wenn er daraus üblicherweise keinen Hehl machte.

"Am besten fragst du ihn das selbst", sagte er und warf der jungen Frau ein warmes Lächeln zu. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dir den Grund verheimlichen würde, aber die Vergangenheit eines Menschen ist vor allem seine eigene Sache, nicht die des Schiffskochs."

Nach diesen Worten deutete er auf das Achterdeck, um mit der Schiffsführung fortzufahren.

"Auf jedem Schiff gibt es natürlich Regeln. Eine der wichtigsten auf der Sphinx, die du dir unbedingt einprägen solltest, ist, nicht das Steuerrad zu bedienen, es sei denn, Shanaya hat dir ausdrücklich die Erlaubnis dazu erteilt. Glaub mir, du willst sie nicht wütend erleben."

Er ließ ein leises Lachen ertönen.

"Auf dem Achterdeck hängt außerdem unsere Schiffsglocke. Wenn du mal Wachdienst haben solltest und wir angegriffen werden, weißt du, was du zu tun hast. Nicht, dass das sonderlich wahrscheinlich wäre, aber wir scheinen Ärger manchmal geradezu magisch anzuziehen."

Er sagte es mit bewusster Leichtigkeit in der Stimme, auch wenn seine Worte durchaus der Wahrheit entsprachen. Er hatte während seiner recht kurzen Zeit auf der Sphinx zumindest schon deutlich mehr erlebt als in einem vergleichbaren Zeitraum auf der Sirène. Der Vorteil daran war ganz eindeutig, dass er mehr Geschichten erlebte, die er im Nachhinein erzählen konnte. Der Nachteil war, dass mit jedem Abenteuer die Wahrscheinlichkeit, diese Geschichten auch wirklich noch erzählen zu können, drastisch abnahm.

"Und über diese Tür gelangen wir auf das Mannschaftsdeck. Bereit?", fragte er, hielt Soula die Tür auf und bedeutete ihr mit einer Geste, die Treppe nach unten zu nehmen.
Im Vergleich zu Rayons Lachen war ihres eher leise, aber nicht weniger fröhlich. Soula mochte es, wie er mit Humor umging und es vereinfachte das Gespräch noch viel mehr für sie. Sie selbst war nicht sehr erpicht darauf, mehr von Crewmitgliedern zu sehen, als ihr lieb war, aber offensichtlich war das ein Gedanke, an den sie sich leider gewöhnen musste.

Soula nickte zustimmend. „Das klingt definitiv danach“, meinte sie und schmunzelte noch.

Rayon gab ihr nicht das Gefühl, dass er sie schnell wieder loswerden wollte, im Gegenteil, es fühlte sich eher so an, als gäbe er ihr genug Zeit sich alles in Ruhe anzusehen. Es gab genug Situationen, die man mit Wissen alleine nicht bewältigen konnte. Aber vielleicht würde es ihr leichter fallen, wenn es zu einem turbulenten Moment kommen sollte. Leider war sie sich trotzdem sicher, dass sie in erster Linie einfach überfordert sein würde. Das ließ sich nicht vermeiden und wie sehr es Soula nervte, würde sie da einfach durch müssen. Als Rayon die Geschichte der Segel erzählte, die überaus beeindruckend klang, sah sie ihn einen Moment lang an, abwartend, ob der Geschichte noch mehr folgte und das tat es. Er hatte nur eine Pause gemacht, in der Soula gespannt zuhörte. Sie wollte nicht eingeschüchtert wirken und gab sich alle Mühe, das zu verbergen. An so einer Schlacht wollte sie definitiv nicht teilnehmen! Als Rayon endete, hatte sie doch eine kleine Mischung aus Ehrfurcht, Bewunderung und Scheu in den Augen. Er kicherte, war das gut? Soula brachte es zumindest dazu, dass sie zögerlich lächelte und den weiteren Worten lauschte. Also entstammte das doch keiner epischen Schlacht. Entschied sie zumindest.

„Du bist aber ein echt guter Geschichtenerzähler. Deine Spannungspausen sind kaum zu übertreffen“
, meinte sie anerkennend.

Sicher gab es da noch mehr und echte Geschichten, denen sie sehr gerne lauschen würde. Einen Vorgeschmack hatte sie nun erhalten und sie hatte Lust auf mehr.

Soula nickte auf die Antwort die Rayon ihr auf die Nachfrage zu Lucien gab. Damit hatte er definitiv recht und sie würde es sich merken, dass ihre Vergangenheit bei ihm laut seiner eigenen Aussage und seinem Handeln gut aufgehoben wäre, wenn sie jemals darüber sprechen wollte. Dafür hatte sie noch lange nicht genug Vertrauen aufgebaut, aber die ersten vertrauenswürdigen Gesten hatte Rayon ihr bereits gezeigt und das verbuchte sie positiv.

„Wenn der Augenblick passt, frage ich ihn vielleicht mal danach“, antwortete sie also sanft darauf und wandte sich dem Achterdeck zu.

Die Bezeichnung kannte Soula tatsächlich schon, auch wenn sie sonst recht wenig wusste. Ihr Blick fiel auf das Steuerrad und sie musste sich beherrschen nicht mit den Augen zu rollen, als sie den Namen der dunkelhaarigen Schönheit hörte. Bisher hatte sie wenig Gutes von ihr mitbekommen und das würde sich auch in naher Zukunft nicht ändern.

„Gut zu wissen, dann ist das wirklich absolut nicht mein Metier.“

Darum musste sich die kopflastige Soula, die oft viel zu viel nachdachte, also nicht kümmern. War vermerkt. Mal ganz davon abgesehen, dass sie nicht wusste, was passierte, wenn sie daran drehte, war das vermutlich sowieso besser so. Gut, man konnte das Schiff damit steuern, schon klar, aber sicher steckte da noch viel mehr dahinter.

Die Schiffsglocke würde ihr auch im Gedächtnis bleiben. Sicher konnte sie sich im Nachhinein nicht alles merken, was Rayon ihr an diesem Tag erzählte, auch wenn sie es wollte. Die wichtigsten Dinge würde sie aber hoffentlich behalten.

„Ist die nur für den Wachdienst gut? Oder auch sonst noch für andere Dinge? Wie… Die Crew zum Essen rufen oder so etwas?“


Das war jetzt nur ein Beispiel, aber vielleicht hatte diese Glocke noch weitere Verwendungsmöglichkeiten. Anschließend waren sie mit dem Deck soweit fertig und Soula fühlte sich hier oben zumindest schon mal ganz gut vorbereitet. Besser als zuvor. Ein Buch konnte aber sicher trotzdem nicht schaden, deswegen wollte sich auch noch beim Buchhändler vorbei, bevor sie ablegten. Als sie die Treppe hinunterblickte, zögerte sie einen Moment. In dunkle Keller zu steigen oder sonstige dunkle Gegenden zu betreten war oft nicht sehr schlau. Warum war Loki nicht da, wenn man ihn brauchte? Sie nahm all ihren Mut zusammen, verdrängte die Furcht, trat die Stufen Schritt für Schritt hinunter und hoffte innerlich, dass sie das Sonnenlicht in naher Zukunft wieder sehen würde.
Das Strahlen in Rayons Gesicht, als Soula ihn einen guten Geschichtenerzähler nannte, hätte selbst ein Blinder bemerkt. Immerhin hatte sie ihm damit eines der zwei größten Komplimente gemacht, die ihm überhaupt gemacht werden konnten - das andere bezog sich auf seine Kochkünste. Noch dazu deuteten ihre Worte, ebenso wie ihre Reaktion, als er seinen Seemannsgarn gesponnen hatte, darauf hin, dass sie gute Geschichten durchaus sehr zu schätzen wusste. Allein deshalb schon war sie ein Crewmitglied nach Rayons Geschmack, denn je mehr Frauen und Männer an seinen Lippen hingen, wenn er von Mythen und Legenden oder Ereignissen aus seiner Vergangenheit erzählte, desto mehr Spaß bereitete es ihm, und desto mehr Menschen konnte er damit zumindest kurzzeitig von dem harten Leben auf See ablenken.

"Ich danke dir", sagte er lächelnd und verneigte sich leicht vor Soula. "Und ich freue mich schon darauf, dir ein paar wahre Geschichten zu erzählen - oder solche, die es zumindest sein könnten."

Der Schiffskoch beobachtete das neue Crewmitglied, während sie ihren Blick über das Schiff schweifen ließ und sich die Details, die er ihr nannte, einzuprägen schien. Sie war ihm sympathisch, nicht nur wegen ihres Kompliments, sondern vielmehr, weil er das Gefühl hatte, eine anständige und aufrichtige Frau vor sich zu haben. Eine Frau, die vermutlich froh sein konnte, auf der Sphinx angeheuert zu haben und nicht auf einem anderen Piratenschiff, denn hier war sie zumindest größtenteils in einer Gesellschaft, in der ihr diese Charakterzüge nicht allzu schnell zum Verhängnis werden konnten. Rayon nahm sich zumindest vor, ein Auge auf sie zu haben und, wenn möglich, dafür zu sorgen, dass dies auch tatsächlich nicht geschehen würde. Auch wenn er eigentlich schon genug damit zu tun hatte, zu verhindern, dass Trevor sich aus lauter Unaufmerksamkeit umbrachte. Und das, obwohl Gregory ihn dabei tatkräftig unterstützte...

Soula holte ihn aus seinen abschweifenden Gedanken, indem sie ihn nach weiteren Einsatzzwecken für die Schiffsglocke fragte.

"Wir läuten sie auch, wenn ein Wachwechsel ansteht. Nur nicht so panisch wie im Falle eines Angriffs", sagte er grinsend. "Und was das Essen angeht... Dafür muss ich nur einmal quer über das Schiff brüllen, das reicht völlig aus, damit alle wie von der Tarantel gestochen zum Mannschaftsdeck flitzen."

Auf Selbigem befanden sie sich nun auch, und Rayon machte eine ausladende Geste mit dem linken Arm.

"Willkommen in deinem neuen Wohn-, Ess- und Schlafzimmer. Alles in einem. Wie praktisch, nicht?", sagte er und musterte sie dabei, um ihre Reaktion aufzufangen und dadurch vielleicht noch ein paar mehr Kenntnisse über ihre bisherigen Erfahrungen auf See zu erhaschen. Dann berührte er sie sanft an der Schulter und bedeutete ihr mit einem sanften Druck, sich umzudrehen.

"Aber zunächst siehst du hier den selbstverständlich wichtigsten Teil des Schiffes", meinte er und musste dabei erneut grinsen, denn diese Äußerung war natürlich sehr persönlich eingefärbt. "Die Kombüse", fügte er feierlich hinzu und öffnete die Tür, um ihr einen Einblick in sein Reich zu gewähren.
Schon alleine, wie Rayon strahlte, nachdem sie ihm ihre Meinung zu seiner Erzählung mitgeteilt hatte, erhellte ihre Miene erneut. Er schien ein recht umgänglicher Mensch zu sein und da sie ihn einige Jahre älter als sich selbst schätzte, hatte er bestimmt noch viel mehr zu erzählen. Soula freute sich schon darauf. Rayon freute sich auch ihr ein paar ‚wahre‘ Geschichten zu erzählen. Aha, also war die vorherige tatsächlich nicht wahr gewesen?

Soula nickte: „Dafür haben wir sicher einige Gelegenheiten“, meinte sie lächelnd.

Es hätte sie brennend interessiert, was Rayon dachte, während er sie beobachtete. Soula wollte auf dem Schiff nichts verpassen, sich nichts entgehen lassen, was in Zukunft an Wichtigkeit zunehmen konnte. Deswegen stellte sie auch entsprechende Fragen, wenn sie ihr kamen, so wie die nach der Schiffsglocke. Rayon entlockte ihr ein Schmunzeln, als er panisches Läuten erwähnte und sie nickte erneut dafür, dass sie verstanden hatte, was er damit meinte. Die ersten Tage oder vielleicht sogar Wochen würde sich Soula auf diesem Schiff sowieso wie ein Fremdkörper vorkommen. Dann lachte sie.

„Naja, bei den hungrigen Kerlen kann ich mir das echt gut vorstellen.“

Ein Schmunzeln blieb auf ihren Lippen zurück. Je nach Situation gab es sicher auch so etwas wie Futterneid… Das Leben auf einem Schiff schien für Soula gerade nicht wirklich attraktiver zu werden.

Wohn-, Ess- und Schlafzimmer in einem… ebenfalls etwas, an das sich Soula wohl eher schwer gewöhnen würde. Seine Ruhe hatte man hier wohl wirklich nicht. Innerlich seufzte die Veniel, ließ sich nach außen hin allerdings nichts anmerken. Lediglich die neutrale Miene sollte Rayon bemerken können. Sie freute sich nicht besonders darauf, mit fast nur Männern in diesem Saal zu nächtigen. Gab es nicht wenigstens einen für die Damen auf See extra?

Auf seine Berührung hin dauerte es nicht lange, bis Soula sich umdrehte und einen Blick auf die Kombüse werfen konnte. Den Begriff kannte sie schon, konnte es also direkt zuordnen und sie lächelte.

„Das heißt, dass das hier dein ganz persönliches Reich ist?“
Ohne zu zögern, trat sie hinein, um sich umzusehen. Sie hatte keine Ahnung, wie das mit dem Kochen auf See funktionierte. Gab es offenes Feuer, wie in der Natur? Gab es einen Ofen, indem man Feuer brennen lassen konnte? War der dann aus nicht brennbarem Material? (Hoffentlich doch!)
Oh ja, diese Gelegenheiten würden sie in der Tat haben - und Soula hatte mit diesen Worten soeben das Privileg erworben, dass Rayon sich höchstpersönlich darum kümmern würde, dass sie auch wahrgenommen werden konnten. Schließlich verhielt es mit seinen beiden großen Talenten ähnlich. Sowohl was das Kochen als auch das Geschichtenerzählen anging, gab es Teile der Crew, die seine Künste sehr wertschätzten als auch solche, die sich nicht sonderlich viel daraus machten. Kameradinnen und Kameraden, die ihn explizit für seine (den Umständen entsprechenden) kulinarischen Kreationen lobten oder hin und wieder eine seiner Geschichten einforderten, und wiederum andere, die sein Essen einfach nur in sich hineinstopften und keinen Unterschied schmeckten, wenn er zum Beispiel exotische Gewürze verwendete, und die seine Geschichten eher ertrugen, als ihnen gebannt zu lauschen. Das Glück, dass in Soula, zumindest was die Geschichten anging, augenscheinlich eine Frau aus der ersten Kategorie zu ihnen gestoßen war, durfte natürlich nicht ungenutzt bleiben.

"Die Seefahrt macht nun einmal hungrig", sagte er vergnügt und zuckte mit den Schultern. "Und ich sorge natürlich dafür, dass niemand mehr als die zugeteilten Rationen in sich hineinschlingt. Zumindest meistens. Manchmal."

Er dachte an einige gewisse Crewmitglieder, die sich darum meist einen feuchten Kehricht scherten, und seine eigene Inkonsequenz, weil er es meist schlichtweg nicht übers Herz brachte, einer hungrigen Piratin oder einem hungrigen Piraten die Kombüsentür vor der Nase zuzuknallen. Wie es jemanden mit seiner Gutmütigkeit jemals in die Kriminalität hatte treiben können, war trotz seiner Vorgeschichte nach wie vor ein Rätsel.

An der Reaktion der jungen Frau auf seine Vorstellung des Mannschaftsdecks konnte der Schiffskoch herzlich wenig ablesen, deutlich weniger zumindest als an ihrem bisherigen Verhalten. Vielleicht bemühte sie sich bewusst darum, angesichts der Wohn- und Schlafverhältnisse an Bord keine Emotionen zu zeigen, vielleicht war sie sich dieser Umstände auch bereits bewusst gewesen. Möglicherweise kümmerte es sie schlichtweg nicht. Rayon würde nicht darauf herumreiten, obwohl er zugeben musste, dass es ihn immer mehr interessierte, wie sie dazu gekommen war, auf ihrem Schiff anzuheuern und wie es um ihre bisherige Erfahrung auf hoher See stand. Vielleicht würde er dahingehend ja ein paar Informationen aus ihr herauskitzeln können.

"Ganz genau", antwortete er auf ihre Frage und ein wenig Stolz schwang in seiner Stimme mit. Schließlich war er für die Ausrüstung und Gestaltung der Kombüse verantwortlich gewesen und bildete sich ein, dass sie deutlich besser ausgestattet war als viele Gegenstücke auf anderen Schiffen. "Manchmal lasse ich aber auch privilegierte Gäste ein." Er schmunzelte. "Oder verdonnere jemanden aus der Crew zum Kartoffelschälen."

Der Dunkelhäutige trat einen Schritt zurück und deutete zur Backbordseite des Mannschaftsdecks, dorthin, wo das Lazarett durch einige alte Segeltücher vom Rest des Decks abgeschirmt war.

"Ich bilde mir außerdem ein, dass die Gerüche und Aromen, die ich beim Kochen freisetze, unseren Verletzten bei der schnelleren Genesung hilft. Wobei Greg natürlich auch seinen Teil dazu beiträgt. Ich drücke dir die Daumen, dass du das Lazarett nicht allzu bald von innen sehen musst."
Das Lächeln, das Soula ihm schenkte, sprach definitiv für ihn. Rayon schien ein aufrichtiger und gutmütiger Mann zu sein. Sie würde seine Gesellschaft in Zukunft definitiv zu schätzen wissen und sie würde ihn vielleicht öfter aufsuchen, als sie es sich gerade zugestehen wollte. Alles unter Deck kam ihr zwar etwas einengend vor, als wären das hier Räume, die sie verschlingen wollten. Aber mit einer Person an ihrer Seite kam es ihr nicht mehr so unheimlich vor. Dennoch würde sie die Zeit an Deck auf jeden Fall bevorzugen. Ein leises Lachen entfuhr ihr, als er probierte ihr mitzuteilen, wie gut er sich durchsetzen konnte. Immerhin wusste er über seine Schwäche Bescheid und versuchte sie nicht heimlich unter den Teppich zu kehren. Ein wenig war sie gespannt, wie sich die Crew allgemein verhalten würde, wenn es Richtung Futterneid ging, wenn die Rationen doch kleiner wurden und man eine gewisse Solidarität brauchte. Natürlich waren das Themen, über die man nicht gerne nachdachte, aber es war doch besser, wenn man auf eine Situation vorbereite war, als wenn nicht.

Der gemeinsame Schlafsaal machte ihr tatsächlich ein wenig zu schaffen. Die ersten Nächte würde Soula wahrscheinlich nicht schlafen können. Vielleicht würde sie sich dann einfach mit einer Decke an die frische Luft verziehen und auf dem unbequemen Holzboden schlafen. Oder so etwas. Alles Dinge, an die sie nicht gewohnt war, von denen sie niemals gedacht hätte, dass sie sich darüber mal Gedanken machen musste. Aber so war es jetzt und auch wenn es ihr schwerfiel, versuchte sie doch irgendwo etwas Positives zu sehen. Kieran würde bei ihr sein, das war wichtig für sie.

„So lange ich nur eine stille Mitfahrerin bin, helfe ich dir gerne“
, versicherte sie ihm. Schließlich war sie noch nie auf einem Schiff unterwegs gewesen, sie kannte die Handgriffe und Kniffe nicht, die sie brauchte, um der Crew nützlich zu sein. Wahrscheinlich war sie in erster Linie einfach nur ein Klotz am Bein der anderen… Sie hasste das.

Egal, was Rayon sagte und wie er seine Sätze aufzog. Jeder einzelne ließ zu, dass Soula noch ein wenig mehr schmunzelte. Er hatte so eine lockere und humorvolle Art an sich, die die Veniel bereits jetzt sehr mochte. „Ich hoffe auch, dass ich es so bald nicht von innen sehen muss. Hattest du schon irgendwelche Leiden auf See?“, wollte sie wissen und sah sich unter Deck nochmal ein bisschen um, ehe er ihr das Schiff weiter zeigen konnte. So konnten sie die Zeit noch ein wenig zusammen verstreichen lassen, ehe Soula sich mit einem sehr angenehmen Gefühl verabschiedete. Rayon war auf ihrer Beliebtheitsliste der Crew auf jeden Fall sehr weit oben angesiedelt.

ENDE