06.05.2021, 17:52
Once and for all the truth will be told
11. Juni 1822 | Nachmittags | Hafen von Silvestre auf der Sphinx
Ganz offiziell waren Soula und Loki nun Mitglieder einer Piratencrew. Das klang noch so absurd und die junge Frau musste sich an diesen Gedanken erst noch gewöhnen. Hätte man ihr vor einem Jahr, als noch alles schön und gut war, gesagt, dass sie sich im nächsten Jahr darüber freuen würde auf hoher See zu sein, dann hätte sie denjenigen schallend ausgelacht. Heute, der Tag, an dem sie das erste Mal auf einem Piratenschiff stand, fühlte es sich absolut surreal an. Wo Loki sich in der Zwischenzeit herumtrieb, wusste sie gar nicht, aber Soula konnte sich vor lauter Neugierde auch nicht mehr zurückhalten, sie wollte das Schiff sehen, mit dem sie in wenigen Tagen in See stechen würde. Sie betrat das Hauptdeck und sah sich aufmerksam um. Einige Crewmitglieder hatte sie schon in der Taverne kennengelernt. Manche kannte sie also so mehr oder weniger. Trotzdem sah sie sich etwas unbeholfen um. Sie kannte sich nicht aus und wollte sich auch nicht alleine alles anschauen, irgendwie kam sie sich sonst wie eine Schnüfflerin vor oder eine Diebin, was sie letztendlich halt auch war.
Endlich würden sie wieder in See stechen! Fast einen ganzen Monat lang hatte der Landgang nun angedauert, und Rayon konnte es kaum erwarten, endlich wieder diese unendliche Freiheit zu spüren, die man nur auf einem Schiff erleben konnte. Noch dazu auf einem Schiff, das so auf Vordermann gebracht worden war wie die Sphinx, die in einem Glanz erstrahlte, den er nie zuvor an ihr hatte bewundern können. Und auch seine Kombüse, sein eigenes kleines Reich, hatte eine Generalüberholung erfahren. Er konnte es kaum erwarten, wieder schwitzend, aber glücklich am Ofen zu stehen und Mahlzeiten für die Crew zuzubereiten, die ihm (größtenteils) so sehr ans Herz gewachsen war.
Gerade hatte er einige Säcke Roggenmehl in den Frachtraum geschleppt und jetzt die Treppe zurück an Bord erklommen. Die Betriebsamkeit auf der Sphinx nahm beinahe stündlich zu, nun, da sie kurz vor der Abfahrt standen, die Vorräte auffüllten und letzte Vorbereitungen trafen. Aktuell jedoch war es relativ ruhig, und nicht zuletzt deshalb fiel ihm die zierliche Person auf, die auf dem Hauptdeck stand und sich etwas unschlüssig umzublicken schien. Ihr Gesicht war ihm zwar fremd, aber er konnte sich durchaus vorstellen, um wen es sich dabei handelte, und steuerte deshalb zielstrebig auf sie zu.
"Soula, schätze ich?", fragte er und schenkte der Frau ein warmes Lächeln.
Mit irgendjemandem verabredet hatte sich Soula nun auch nicht, doch sie war sich fast sicher, dass sie jemanden auf dem Schiff antreffen würde, immerhin war es nun lange in der Werft gewesen und von manchen Crewmitgliedern hatte sie den Eindruck erhalten, dass sie das Schiff auch einfach sehr vermissten. Bald würde es auch ihr zu Hause sein und damit wollte sie sich endlich auseinandersetzen. Einige Namen konnte Soula bereits zuordnen aber alle kannte sie noch nicht. So war es auch bei dem Mann, der sie wohl bemerkt hatte und auf sie zukam. Sie fühlte sich nicht unwohl, auch wenn jemand, der sie nicht kannte vielleicht annehmen konnte, dass sie hier nichts zu suchen hatte. Er kam so zielstrebig auf sie zu und wirkte gleichzeitig sehr offen, sie brauchte sich also nicht fehl am Platz fühlen, noch viel weniger, als sie hörte, dass er bereits ihren Namen kannte. Sein warmes lächeln und sein Auftreten sorgten dafür, dass Soula direkt ein wohliges Gefühl umfing. Sie lächelte ebenfalls und nickte. „Ja richtig. Ich gehöre seit kurzem zu eurer Crew und hoffe mit euch segeln zu können“, meinte sie überflüssigerweise. Sicher wusste er das bereits, wenn er schon ihren Namen kannte, dann hatte er bestimmt auch schon davon gehört. „Ich wollte mich auf dem Schiff ein wenig umsehen und mich damit vertraut machen, aber irgendwie kam ich mir dann doch ein bisschen wie eine Schnüfflerin vor“, meinte Soula dann schmunzelnd. Das erklärte vielleicht auch, warum sie etwas unschlüssig an Deck gestanden hatte. Sie wollte sich weder aufdrängen, noch ihn von irgendwelchen Arbeiten abhalten. „Ich kann aber auch nochmal wiederkommen, wenn ich gerade störe.“ Nicht, dass ein Schiff nicht groß genug war, um sich einigermaßen aus dem Weg gehen zu können, aber sie wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass er sich jetzt um den nervigen Neuzugang kümmern musste.
Der Neuzugang schien sich ein wenig zu entspannen, nachdem Rayon sie angesprochen hatte, auch wenn ihre nachfolgenden Worte nach wie vor darauf hindeuteten, dass sie sich zumindest ein wenig fehl am Platz vorkommen musste. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, dass ein gewisses anderes weibliches Crewmitglied wahrscheinlich kurzerhand das Schiff erkundet, in jede Truhe geschaut und alles genauestens betrachtet hätte, das auch nur ansatzweise interessant aussah. So unterschiedlich konnten Menschen sein.
"Keine Sorge, du störst nicht", erwiderte der Dunkelhäutige, bevor er seine rechte Hand ausstreckte. "Ich bin Rayon. Smutje auf diesem Schiff und damit für dein leibliches Wohl verantwortlich. Wann immer dir der Magen knurrt, bin ich zur Stelle", fügte er lachend hinzu, während er Soula musterte. Sie war sehr jung, vermutlich ungefähr in Shanayas Alter, und ziemlich schlank. Zeichen harter körperlicher Arbeit konnte er ihr zumindest auf den ersten Blick nicht ansehen. Wie so häufig stellte sich ihm die Frage, was geschehen sein musste, um einen Menschen so früh in die Piraterie zu treiben - und in diesem Fall auch noch eine zierliche Frau, die nicht unbedingt so aussah, als könne sie sich bei einem Entermanöver effektiv ihrer Haut erwehren. Andererseits hatte Rayon schon häufig erkennen müssen, dass der Schein bisweilen trügen konnte.
"Die Sphinx ist eigentlich ein Schiff wie jedes andere", sagte er dann, wobei die Zuneigung, die er mittlerweile zu seinem Zuhause auf... äh... Brettern... verspürte, deutlich in seinen Worten mitschwang. "Aber wenn du willst, kann ich dich gerne ein bisschen herumführen. Wir haben die Gute gerade ordentlich auf Vordermann gebracht!" Zur Demonstration seiner Aussage machte er mit dem linken Arm eine ausladende Bewegung in Richtung der frisch geschliffenen Planken und der neuen blutroten Segel.
Es war nicht ihre Absicht in irgendwelchen privaten Dingen zu stöbern. Sie selbst würde das nicht wollen und manchmal lebte Soula sogar nach diesem Prinzip, dass sie sich anderen gegenüber so verhielt, wie sie es auch gerne hätte (aber nur manchmal, denn sie selbst hätte es sicher auch nicht gerne, wenn man ihr Dinge von Wert entwendete, aber das war definitiv etwas anderes!). Soula war schon sehr erleichtert, dass sie ihn nicht störte, obwohl das oft nur eine Floskel war, um jemanden nicht vor den Kopf zu stoßen. Das lag aber nicht mehr in ihrer Hand. Mehr als anbieten, dass sie wieder ging, konnte sie auch nicht. Rayon, wie er sich dann vorstellte, machte aber auch nicht den Eindruck, als würde er etwas dagegen haben. Vielleicht interessierte ihn auch der Neuzugang, den er bald rund um die Uhr in der Nähe haben würde. Sie drückte Rayons Hand, nicht zögerlich, aber auch nicht mit besonders viel Kraft, wie es ein Mann vielleicht getan hätte. „Freut mich dich kennenzulernen, Rayon“, meinte sie ehrlich und lächelte. Ihren eigenen Namen wiederholte sie nicht nochmal. Dann schmunzelte Soula. „Ist sicher auch nicht einfach eine Mannschaft durchzufüttern mit den Möglichkeiten, die ein Schiff bietet, oder?“, fragte sie interessiert. Tatsächlich fehlte Soula auch an dieser Stelle das entsprechende Wissen dafür. Kochen auf einem Schiff? Wie funktionierte das, ohne, dass man es auf den Grund des Meeres beförderte? Ja, vielleicht sollte sie das Buch, das sie sich in der Buchhandlung über die Seefahrt besorgt hatte, sehr sehr schnell durchlesen, damit sie keine überaus dummen Fragen mehr stellen musste.
Schon bei der nächsten Aussage, dass die Sphinx ein Schiff war, wie jedes andere auch, lächelte Soula nur. Sie stand gerade das erste Mal auf einem Schiff, sie hatte keine Vergleichswerte. Soula überspielte dieses unangenehme Gefühl, in dem sie auf sein Angebot einging. „Oh ja, das wäre wirklich super“, antwortete sie und nickte. „Aber nur, wenn es deine Zeit zulässt und deine Lust. Ich weiß nicht, ob es so viel Spaß macht Fremden das Schiff zu zeigen.“ Ein Schmunzeln lag auf ihren Lippen und sie musste zugeben, dass sie die Idee ganz gut fand, so konnte sie Rayon auch ein bisschen kennenlernen. Soula konnte diese Crew noch so wenig einschätzen und es waren definitiv keine Piraten, wie sie in Büchern beschrieben wurden. Den Eindruck hatte sie bereits erhalten.
Man merkte schnell, wie wichtig Rayon dieses Schiff war. Ähnlich wie bei Shanaya damals, irgendwie bewunderte Soula das. „Wie lange bist du schon ein Teil der Crew?“, fragte sie neugierig. „Ich habe keinen Vorher – Nachher Vergleich. Aber so wie ihr alle von dem Schiff schwärmt, gibt sie sicher viel her.“ Gut, Soula würde dieses Schiff nie mit ihren eigenen vier Wänden vergleichen können und sie musste noch lernen ihre Ansprüche runterzuschrauben, auch wenn sie behauptete, dass sie das bereits getan hatte. Gefühlt war das hier eben etwas ganz, ganz anderes.
Soulas Frage machte den Schiffskoch für einen Moment stutzig, doch er entschied sich - mehr unbewusst - dazu, dieses Gefühl zu übergehen. Aus welchem Grund auch immer sie sie gestellt hatte, es machte letztendlich keinen Unterschied. Vielleicht suchte sie einfach nur nach einem Gesprächsthema und stellte sich dabei, wissentlich oder unwissentlich, ein wenig unerfahrener, als sie war. Vielleicht war sie auch wirklich unerfahren, oder sie hatte sich schlichtweg bisher nie dafür interessiert, wie genau das Essen auf einem Schiff auf den Tisch kam.
"Das kommt ganz darauf an, wie erfinderisch man ist wie viele verschiedene Zubereitungsarten einfacher Lebensmittel man kennt", antwortete er und zwinkerte ihr vergnügt zu. Da er seine Kochkünste an Land erlernt hatte, war er an Bord eines Schiffes in der Tat ein wenig eingeschränkt in seinen Möglichkeiten, aber die Erfahrung, die er über die Jahre gesammelt hatte, erlaubte es ihm trotzdem, eine gewisse Abwechslung bieten zu können. Außerdem war da natürlich noch seine Geheimwaffe, die Gewürze aus der Heimat und die perfekte Kenntnis ihrer Anwendungsmöglichkeiten, die er den meisten anderen seines Fachs voraus hatte.
Die junge Frau ging bereitwillig auf sein Angebot ein, ihr das Schiff zu zeigen, wobei sie sich abermals äußerst höflich, beinahe schüchtern oder zumindest sehr zurückhaltend gab. Er segelte sicherlich nicht mit den grausamsten, niederträchtigsten, egozentrischsten Piraten der acht Welten, eher im Gegenteil, trotzdem war ihre Art ungewöhnlich - durchaus im positiven Sinne.
"Ich hätte es dir nicht angeboten, wenn ich weder Zeit noch Lust hätte", meinte er lächelnd. "Außerdem ist die Sphinx von nun an dein Zuhause. Da ist es sehr von Vorteil, wenn du dich mit ihr auskennst."
Um etwaige weitere Zweifel an seiner Bereitschaft, ihr das Schiff zu zeigen, aus der Welt zu schaffen, begann er direkt damit und deutete in Richtung Bug auf die kleine Tür in der Mitte des Aufbaus.
"Dort vorne findest du die meisten Utensilien, die wir für die Arbeit an Deck benötigen, und oben auf dem Bugaufbau die beiden Ankerspills. Das große Beiboot hängt an der Backbordseite." Er nickte kurz grob in die Richtung des Bootes und zeigte dann auf die Takelage. "Wir haben hier so gut wie alles erneuert. Die Segel, die Seile und Halterungen, das Schiff ist sogar frisch gestrichen", sagte er und konnte den Anflug von Stolz in seiner Stimme kaum verbergen - dabei war es gar nicht sein Schiff. "Wie du siehst... sonderlich interessant ist es auf dem Hauptdeck nicht." Er grinste, bedeutete ihr, ihm in Richtung Achterdeck zu folgen und setzte sich gemächlich in Bewegung.
"Ich bin jetzt seit ungefähr drei Monaten auf der Sphinx. Vorher bin ich jahrelang an Bord der Sirène gesegelt, einem Freibeuterschiff, aber als Talin nach einer Crew gesucht hat, um ihren Bruder aus den Fängen der Marine zu befreien, bin ich gemeinsam mit Trevor und Gregory auf dieses Schiff gewechselt", erzählte er. "Hast du die beiden zufällig schon kennengelernt?"